Ein Comic der Superlative
In seinem fingierten Essay Kleine braune Tiere vergleicht Clemens J. Setz den Stellenwert des Comic-Romans Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt mit dem von Ulysses, Die Enden der Parabel oder Unendlicher Spaß. Dieses „Meisterwerk“, so Setz, ist sogar mitverantwortlich dafür, dass er überhaupt begann Romane zu schreiben. Noch vor Veröffentlichung der deutschen Übersetzung im Berliner Verlag Reprodukt wurde der Comic von Chris Ware mit zahlreichen Vorschusslorbeeren bedacht. Kein Wunder, denn das bereits im Jahr 2000 in den USA erschienene Werk gehört seit geraumer Zeit zu den Kultklassikern, den Meilensteinen des Genres. Seine Übersetzung ins Deutsche war nach 13 Jahren mehr als überfällig. Was aber macht diesen Comic so einzigartig?
Allein an der Story oder ihrem Protagonisten liegt es wohl nicht. Jimmy Corrigan ist ein ziemlich durchschnittlicher Mittdreißiger, der inmitten von Chicago nichts weiter vom Leben hat als seinen eintönigen Büroalltag und die täglichen Telefonate mit seiner Mutter. Auf andere Menschen zuzugehen fällt ihm schwer. In Gegenwart von Frauen fühlt er sich unsicher und wird schnell nervös. Seinen Vater hat Jimmy nie kennengelernt. Doch als dieser nichtvorhandene „Dad“ eines Tages Kontakt zu Jimmy aufnimmt, gerät die biedere Eintönigkeit in Aufruhr, denn Jimmy beschließt diesen Fremden zu treffen. Und so beginnt für ihn die Reise in eine Vergangenheit, die er nie erlebt und die dennoch viel mit ihm zu tun hat. Chris Ware erzählt die Geschichte der Familie Corrigan über vier Generationen hinweg und spannt damit einen zeitlichen Bogen, der sich von der Weltausstellung in Chicago 1893 bis in die Gegenwart erstreckt. Der Leser nimmt dabei nicht nur Teil an dem missglückten Treffen zwischen Jimmy und seinem Vater, der sich bemüht die verpasste Zeit mit seinem Sohn aufzuholen. Er lernt auch Jimmys Großvater kennen, der als Halbwaise unter einem tyrannischen Vater litt. So ist Jimmy Corrigan vor allem ein Buch über gescheiterte Vater-Sohn-Beziehungen.
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All das dürfte den Lesern großer, episch aufgeladener Familienromane aus den USA vertraut sein. Jimmy Corrigan ist eine Geschichte, wie sie unter anderem von Autoren wie Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides erzählt wurde. Der Clou des Ganzen liegt aber natürlich in der Aufbereitung als Comic, die die Grenzen dieses Genres nicht neu definierte, sondern dergestalt erweiterte, dass man sie kaum mehr wahrnimmt. Auf 380 Seiten entwirft Ware einen komplexen Narrationsraum, der sich vor allem in seiner atmosphärischen Ausgestaltung mit jedem „klassischen“ Roman messen kann. Vom ganzseitigen Panel bis hin zum Thumbnail-kleinen Bildchen ist Ware vor allem ein Meister der Fokussierungen, wahlweise auf Details oder die Totale, die immer zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden, sodass der Leser am Blickwinkel der Protagonisten teilhat. Eine Intensität, die auch durch den Piktogrammstil Wares unterstützt wird. Dieser wirkt zwar bisweilen etwas kühl, fast steril, aber nur dann, wenn die Bilder sparsam ausgestattet sind. Das ist meist der Fall, wenn Jimmy und sein Vater sich schweigend gegenüber sitzen und beiden nur ein verlegenes Räuspern einfällt, um die quälende Stille zu durchbrechen. Dann wieder gibt es Bilder von geradezu epischer Überfrachtung, die am Gewimmel der Stadt Chicago vor der großen Weltausstellung teilhaben lassen, ohne dabei ihr narratives Element aus den Augen zu verlieren. Besonders effektvoll gestaltet Ware die Tagträume Jimmys, die vor allem von Vatermord-Phantasien geprägt sind. Aus der vertrauten Erzählsituation heraus lässt er seinen Helden mit einer abgebrochenen Flasche über seinen Vater herfallen. Das Moment der Irritation stellt sich auch beim dritten und vierten Mal noch ein, da Ware fast nie mit harten Schnitten, sondern sehr gekonnten Überblendungen arbeitet.
Darüber hinaus bietet Jimmy Corrigan ein wahres Feuerwerk an Paratexten, was sich unter anderem darin äußert, dass Impressum oder Titelbild (gleich mehrfach) in den Bildtext integriert werden. Zudem gibt es ausschweifende, ja essayistische Anleitungen, was ein Comic überhaupt ist und wie er zu lesen sei, sowie ein Nachwort des Autors zur Entstehung des Buches. Und als ob das alles noch nicht genug sei, lässt sich der Schutzumschlag auch noch mehrfach ausklappen… aber das soll hier nicht auch noch verraten werden. Denn Jimmy Corrigan ist vor allem eins: eine doppelbödige Entdeckungsreise durch die Welt des ernstzunehmenden Comic-Romans, die das gesamte Spektrum an bildgestalterischen Möglichkeiten aufzeigt, um eine ganz und gar ergreifende Geschichte zu erzählen. Ein echtes Ereignis!
Fixpoetry 2013
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