Lyrisches Lexikon der sezierenden Ehrfurcht
Christa Wißkirchen ist vor allem literarisch ambitionierten Eltern – in Bezug auf ihren Nachwuchs – ein Begriff. Die 1945 in thüringischen Bad Frankenhausen geborene und heute in der Nähe von Köln lebende Schriftstellerin wurde über die letzten Jahrzehnte in erster Linie als Kinderbuchautorin bekannt. Aber aufmerksame LyrikleserInnen hatten ebenfalls schon seit langem Gelegenheit, Wißkirchens Gedichte zu entdecken. In etablierten deutschen Anthologien wie dem “Jahrbuch der Lyrik” oder den “Versnetzen” war sie über die Jahre immer wieder vertreten, ebenso in mancherlei literarischen Zeitschriften der Republik.
Mit eigenen Lyrikbänden lässt sie sich allerdings gemeinhin länger Zeit; 2001 erschien ihr erstes eigenständiges Werk “Blickfeld” (seinerzeit noch im Selbstverlag), gefolgt von “Der Nährwert des Kiesels” bei der Edition Silver Horse im Jahre 2007. Die langen Veröffentlichungspausen zwischen den Gedichtbänden zeugen von einer sorgfältigen Arbeit und einem nachhaltigen Verantwortungsgefühl für die in unseren Tagen wenigstgelesene und meistmissbrauchte literarische Gattung, und ihre Texte konnten den Anspruch, der sich damit verbindet, auch in der Vergangenheit schon einlösen. Mit ihrem dritten, soeben in der Frankfurter Edition Faust erschienenen Band “Nach der Flut” legt Wißkirchen nun ein Zeugnis ihrer beharrlich niveauvollen Lyrik vor.
Bis auf das vorangestellte Motto “ON”, in welchem Wißkirchen in wenigen Worten die Positionierung ihres lyrischen Schreibens umreißt, sind alle Texte im Buch streng alphabetisch nach Titel geordnet. Das und die fehlende Einteilung in thematisch einordnende Kapitel erwecken einen latent lexikalischen Eindruck, insbesondere beim Blick auf das sechzig Texte umfassende Inhaltsverzeichnis. Dies lässt sich formal durchaus nachvollziehen.
Die einzelnen Gedichte stehen zunächst als immer wieder rezipier- und zitierbare Solitäre für sich allein, bedürfen keiner wie auch immer gearteten Gruppierung, obwohl dies gleichwohl ohne Schwierigkeiten möglich gewesen wäre. Wißkirchens Themen umfassen Natur- und Dinggedichte, poetologische wie gesellschaftsportraitistische lyrische Schlaglichter. Gleichzeitig ergeben sich allerdings in der gewählten alphabetischen Abfolge erstaunliche Kohärenzen zu den jeweils vorangegangen bzw. folgenden Texten, in denen ein zentraler Begriff der Betrachtung in völlig anderem Licht wieder eine Rolle spielt wie in den beiden Gedichten “Physik” und “Plötzliches Genügen” (S.48f.), wo es einmal heißt
“Es könnte einer zugrund gehen / an sonnenbeleuchteten Küchen.”
und im anderen Text:
“da / geht mein Schatten auf im Feld / es erscheint auf dem fernen Berg / die plötzlich herausgeleuchtete Stadt”.
Solcherlei Verknüpfungsmöglichkeiten finden sich immer wieder im Buch, mitunter geht es auch nicht nur um inhaltliche Parallelen, sondern auch um den Sprachduktus oder die Sprechhaltung des lyrischen Subjekts. Jedenfalls wirkt die Anordnung der Gedichte nie nur der lexikalischen Reihung alleine geschuldet. Ein Blick auf den äußeren Bau der Texte läßt dagegen zunächst keine auffallenden Strukturen erkennen. Es gibt kaum strophische Gliederungen, die meisten Zeilen sind konventionell linksbündig im Flattersatz gehalten wie häufig bei den freien Rhythmen moderner Lyrik - und man darf hier wirklich von Rhythmen sprechen, denn Wißkirchen ist eine Freundin der inneren Ordnung. Strukturen sind nie Selbstzweck, sondern folgen streng dem semantischen Gehalt, wie in ihrer “Genitiv-Etüde”, die als einer der wenigen Texte tatsächlich (und nachvollziehbar) einen strophischen Bau aufweist:
“ Er ihrer überdrüssig / Sie seiner eingedenk / Er ihrer bedürftig / Sie seiner müde // Ach deiner gewiss sein / Ach meiner mächtig / Wie deiner entraten / Erbarm dich / unser” (S.26)
Die bereits angedeutete thematische Vielfalt wird in einer Sprache vorgebracht, die vorsichtig tastend um Wahrhaftigkeit ringt. Der ungewöhnliche Blick auf die Dinge zeichne ihre Gedichte aus, verspricht der Klappentext. Das ist so eine Phrase, der man zu häufig begegnet, um sie ungeprüft glauben zu können. Zu oft ergibt die nähere Betrachtung dann, dass der Blick kein wirklich eigenständiger ist oder aber eine differenzierte und sprachlich autonome Betrachtung letztendlich im reinen Reproduzieren von Bildern und Stimmungen verharrt und daraus nicht wirklich Texte entwickelt wurden, die die Bezeichnung Gedicht überhaupt verdienen. Im Falle von “Nach der Flut” trifft dies erfreulicherweise nicht zu. Wißkirchens Sezierblick hat dazu noch bei aller mitunter schmerzhafter Genauigkeit etwas ungemein Empathisches, wenn sie beispielshalber über ein Ahornblatt schreibt:
“es ist unser Großvater aus dem Anatomiebuch, / gelblich verschnurrt, die linke Wange / abpräpariert, aber noch: es ist er. / Still, rühre mit Ehrfurcht / das Blatt an. Blätter haben / doch ein Gesicht.” (S.15)
Auch dieses Gedicht korrespondiert über die Reihe der Vorfahren mit dem vorangegangenen, an dem sich das wißkirchensche Prinzip der Augenblicksvergegenwärtigung durch klare Sprache ablesen lässt:
“Das a in Vater // Plötzlicher Einklang von Nomen, Stimme, Figur: / Vater / sagt mit Vatervokal / der Bariton am Altar.” (S.14)
Gleichzeitig schwingt hier aber auch neben einer sehr gelungenen formalen Komponente durch die omnipräsenten a-Laute noch ein weiteres Merkmal der Sprache von Christa Wißkirchen mit: das Element der Ironie, das ganz viele ihrer Gedichte durchzieht. Die Autorin hat es allerdings gut im Griff, so sparsam damit umzugehen, dass ihre Einlassungen nie ins Zynische umschlagen:
“Lappen // Lappen hat bessere Tage gesehen / spart euer Mitleid / geschnitten aus großem Zusammenhang / Design-Spuren farbsträhnig ins Weite / voll im Einsatz aber mit Vorbehalt / der abgerissene Look ist sein Plus / er führt den Titel Fragment / (manche werden als Lappen geboren / fertig umkantet)” (S.38)
“Nach der Flut” enthält viele zweifelsohne durchdachte, gleichwohl mit leichter dichterischer Hand gewobene Textgespinste. Wenn die Autorin weiterhin in der gleichen Geschwindigkeit veröffentlicht, ist mit dem nächsten Gedichtband nicht vor ca. 2024 zu rechnen. Das Warten könnte sich freilich lohnen.
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