Poetische Kunst der Erinnerung
Es gibt in der Gegenwart nur wenige künstlerische Lebenswerke, die durch die Jahrzehnte hindurch so eindringlich vor Augen führen, dass Erinnerung die Mutter aller Musen ist, wie das bildnerische und das dichterische Werk Christoph Meckels. Dabei geben die Lebensdaten des 1935 geborenen Meckel nur den äußeren Rahmen ab für seine graphische und seine poetische Kunst, die auf höchst eindrucksvolle Weise, eingedenk der selbst erfahrenen Verwundungen und Zerrüttungen des 20. Jahrhunderts, stets ihren eigenen Weg gegangen ist, unbestechlich durch Moden und Seilschaften der Zeit – wahrhaft autonom.
Als Christoph Meckel 1956 mit dem Band „Tarnkappe“ debütierte, war mit einem Mal ein neuer, eigenständiger Ton in der deutschsprachigen Lyrik zu vernehmen, ein Ton, der für uns Heutige nichts Geringeres markiert als ein Ende jener „Trümmerliteratur“, freilich ohne die Trümmer der Geschichte je aus dem Auge zu verlieren. So ist es bis heute geblieben. In jedem seiner späteren Werke sind die Wunden der Zeit auf höchst bemerkenswerte Weise präsent. Christoph Meckels Gedicht ist - um es mit einem seiner berühmtesten Poeme zu sagen – „nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird“, es ist vielmehr „die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden“ und „der Ort der zu Tode verwundeten Wahrheit“. Der Grundton, der dieser Poesie eignet, macht die Werke aber keineswegs düster, weil der zernichtenden Erfahrung und der daraus erwachsenden Melancholie oftmals etwas Spielerisches, Träumerisches, Leichtes entgegengestellt wird, das die Schrecken der Geschichte zwar nicht auszuhebeln vermag, wohl aber die versöhnende Kraft des Poetischen auf eine beinahe trotzig-subversive Weise bezeugt. Es hat Bücher und Zeiten gegeben, da lagen die Meckel-Auflagen in schwindelnder Höhe, da trugen zahllose Lyrik-Leserinnen und -Leser Bände wie „Säure“ (1979) „Souterrain“ (1984) wochen-, ja monatelang griffbereit in der Parka-Manteltasche mit sich herum, da waren seine Lesungen überfüllt von still und andächtig lauschenden Zuhörern: „ausverkauft“.
Dass diese Zeiten vorbei sind, spricht nicht für unsere Zeit. Dass Christoph Meckel aber auch seit diesen erfolgsverwöhnten Zeiten beharrlich weitergearbeitet hat und bis heute – in seinem „Hausverlag“ Carl Hanser, aber auch an manchen anderen Stellen – weit mehr als 100 (!) Bücher publiziert hat, deren jedes das poetische Werk auf eindrucksvolle Weise bereichert, ist ein nicht geringer Verdienst seiner künstlerischen Arbeit. Vielleicht hat es auch alles seine Richtigkeit so. Der fortwährende Erfolg bei einem massenhaften Publikum wäre ihm selbst gewiss suspekt gewesen; und ist es unverkennbar eine Breitenwirkung, die ihm als einem der zweifelsfrei produktivsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren von Rang gelingt und die seine Arbeit auszeichnet.
Literarische Arbeiten, die sich dezidiert der Erinnerung widmen, sind Marksteine im poetischen Werk Christoph Meckels und – mehr noch – in der literarischen Landschaft unserer Zeit. Meckels „Suchbild – Über meinen Vater“(1980) war, abseits von vordergründiger Politisierung, ein solcher Markstein, mit dem eine höchst differenzierte Auseinandersetzung mit der Väter-Generation einsetzte. Seitdem ist in Meckels Werk eine Fülle von „Erinnerungsarbeiten“ hinzugekommen. Bemerkenswert ist, dass Meckel sich dabei nicht nur – wie etwa in „Dichter und anderen Gesellen“ (1998) überwiegend bekannteren Zeitgenossen aus Literatur und Kultur gewidmet hat, sondern auch unbekannteren oder vergessenen Autoren, und – zumindest – einmal, in dem berührend schönen Prosabuch „Ein unbekannter Mensch“ (1997), einem einfachen Bauern aus der Provence: Was vor dem Vergessen zu erretten ist, ermisst sich eben nicht an vermeintlicher Popularität, und schon gar nicht am Bekanntheitsgrad.
„Von Marie Luise Kaschnitz ist momentan kein einziger Gedichtband lieferbar“, sagte mir Christoph Meckel einmal am Telefon, als wir in gänzlich anderer Angelegenheit miteinander sprachen. Es lag Betroffenheit in seiner Stimme, ein Hauch von Traurigkeit angesichts dieses für uns beide gleichermaßen unvorstellbaren Befunds. Aber es stimmte, damals, vor etwas mehr als einem Jahr. Und vielleicht sagt dieses Faktum mehr über unsere Zeit, als uns lieb sein kann. Aber es wäre Gift für die Literatur, angesichts solcher Fakten zu resignieren. Christoph Meckel resigniert nicht. Als wir sprachen, war sein eindrucksvolles Erinnerungsbuch zu Marie Luise Kaschnitz gerade erschienen.
„Wohl denen die gelebt. Erinnerung an Marie Luise Kaschnitz“ lautet der Titel dieser Prosa, die nicht nur die poetische Gestalt dieser „Grande Dame“ der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur lebendig werden lässt, sondern – im einfühlsamen Rekurs auf Zusammenkünfte und Gespräche – die Poesie selbst als einen Raum der Begegnung vor dem geistigen Auge des Lesers erfahrbar werden lässt. Christoph Meckel erzählt leise und behutsam die Geschichte einer Annäherung, die durch zwei Jahrzehnte hindurch zu immer neuen Begegnungen führt, zunächst in Bollschweil, später in Frankfurt und in Rom. Es ist das gemeinsame Gespräch über Dichtung – eigene wie fremde – das die Menschen zusammenführt und schließlich zur verbindenden Heimstatt wird. Meckel erzählt davon auf eine unaufdringliche Weise, mit feinem Gespür für Details und ohne jede Verklärung. Kunstvoll sind diese Erinnerungen verknüpft zu einem verzweigten Netz literarischer Anspielungen, Landschafts- und Naturbetrachtungen, und immer wieder mischt sich in diese Prosa – leichtfüßig, beiläufig fast – das Poetologische. Auf eine höchst eindrucksvolle Weise bezeugt Christoph Meckels Prosaband, wie das Dichterische die Koordinaten einer Welt zu bilden vermag: Es muss nur aufgehoben und zur Sprache gebracht werden. Von Rimbaud ist da die Rede, von Celan, von Bachmann und von Walther von der Vogelweide, von der öffentlichen Wirkung der Dichtung, und oftmals auch von dem, was – ob in Gedichten oder in Gesprächen – nur „zwischen den Zeilen“ entziffert werden kann. Insgesamt ist diese Prosa ein bemerkenswertes Zeugnis der Authentizität eines literarischen Austauschs, der selbst im Schweigen noch eine große Tiefe und Nähe zu entfalten vermag. „Es war nicht immer ihr Wortlaut, der mich berührte, forderte, ihr zu widersprechen Anlass gab“, heißt es an einer Stelle am Ende des Buches, und weiter: „Es konnte ihr lautloses Zuhören sein, die lebendige Schwermut, das Unangreifbare darin, die Glaubwürdigkeit.“
Von solcher Glaubwürdigkeit zeugt auch ein zweites, kürzlich erschienenes Erinnerungswerk Christoph Meckels. Es trägt den Titel „Hier wird Gold gewaschen“ und ist dem Dichter Peter Huchel gewidmet, dem Meckel schon als sehr junger Mensch begegnet war, weil sein Vater, Huchel und Eich zeitweise miteinander gearbeitet hatten. Wie der Kaschnitz-Band, so beginnt auch die Huchel-Erinnerung mit dem Rekurs auf einen Besuch der Grabstätte – also jenes Ortes, der doch als Erinnerungsstätte schlechthin betrachtet werden kann – ohne allerdings das zuvor erschienene Werk auch nur im Geringsten zu kopieren. Natürlich ist auch hier wieder von den Begegnungen, den verschiedenen Stadien der Annäherung, dem Austausch im Literarischen die Rede, aber Peter Huchels dichterische wie persönliche Biographie ist von der Marie Luise Kaschnitz’ viel zu weit entfernt, als dass ein aufmerksamer Chronist wie Meckel hier in die Gefahr geraten könnte, seine Beschreibungen zu parallelisieren. Während unter der Oberfläche des Kaschnitz-Bandes ein eindrucksvolles Bild der von alter Historie aufgeladenen Existenz der „Grande Dame“ ebenso zur Geltung kommt wie eine subtile Beschreibung des westdeutschen Literaturbetriebs der 60er und 70er Jahre, rekurriert der Band über Peter Huchel auf die (geographischen wie politischen) Landschaften des Ostens, rückt das Bild des vermeintlichen „Naturlyrikers“ Huchels gehörig zurecht und thematisiert auf leise – und vielleicht gerade deshalb so außerordentliche berührende – Weise die Erniedrigungen und Ausgrenzungen, die Huchel in der DDR widerfuhren. Gleichwohl verschweigt der Text auch nicht, dass es nach der Übersiedelung in der BRD sehr schnell den Versuch gab, Huchel auch hier wieder politisch zu vereinnahmen.
Huchel widerstand diesem Versuch – so, wie Christoph Meckel jedem Versuch einer Vereinnahmung auf beispiellose Weise widersteht. Seine beiden jüngst erschienenen Bücher, denen schöne, ausdrucksstarke Graphiken des Autors beigefügt sind, bezeugen dies auf bemerkenswerte Weise – wie seine Gedichte, bis auf den heutigen Tag. Vor wenigen Tagen hat Christoph Meckel seinen 75. Geburtstag gefeiert. Der Carl Hanser Verlag wird im kommenden Monat aus diesem Anlass einen neuen Gedichtband des Jubilars publizieren. Auch diese neuen Gedichte sind sicher nicht „der Ort, wo der Engel geschont wird“ – wohl aber werden sie – wie die Meckel’sche Prosa – jedem Leser gewiss einen reichen Gewinn bescheren.
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