Restauration und Revolution
Claude Lévi-Strauss war ein großer Freund und zärtlicher Anhänger Japans. Und das seit frühester Kindheit. Bereits im Alter von sechs Jahren machte er Bekanntschaft mit dem japanischen Farbholzschnitt. Sein Vater, Kunstmaler und Verehrer der Impressionisten, hatte etliche davon in einem großen Pappkarton gesammelt, und eines Tages schenkte er einen von ihnen seinem Sohn: „einen Holzschnitt von Hiroshige, sehr abgegriffen und ohne Ränder, der Spaziergängerinnen unter großen Pinien vor dem Meer darstellte“, wie sich Lévi-Strauss im Vorwort zur japanischen Ausgabe der „Traurigen Tropen“ erinnert.
Der junge Freund japanischer Ästhetik klebte das Blatt auf den Boden einer Schachtel und hängte diese über seinem Bett auf. Es bildete den Hintergrund für das sich zu einer Terrasse hin öffnende Häuschen, das die Schachtel darstellte, und das er nun mit japanischen Miniaturmöbeln aus einem Pariser Spezialgeschäft bestückte. Über die Jahre kamen als Belohnung für schulische Erfolge weitere Blätter von Shunsho, Yeishi, Hokusai, Toyokuni, Kunisada und Kuniyoshi hinzu, darüber hinaus legte er sein Taschengeld in illustrierten japanischen Büchern und Alltagsgegenständen an. Mit ihnen träumte er sich ins ferne Land der aufgehenden Sonne.
Lévi-Strauss’ Erinnerung an die frühe Japan-Initiation hat etwas Proustisches. Wie sich Marcel in Combray in das von seiner Laterna magica projizierte französische Mittelalter der Troubadours und mit den von Swann geschenkten Büchern und Stichen nach Venedig träumt, erschafft sich Lévi-Strauss aus seinen japanischen Schätzen einen Ort des Anderen. Den Ort einer Antithese, die eine tieferliegende Ähnlichkeit überdeckt. Den Ort einer Sehnsucht, die zu Hause unerfüllt geblieben ist.
Dass Lévi-Strauss ausgerechnet in Japan, wie er in besagtem Vorwort schreibt, ein Land sieht, dem es gelungen sei, Tradition und Moderne zu versöhnen, Vergangenheit und Gegenwart in eine Balance zu bringen, die Zerstörung der Natur zu verhindern im Bewusstsein, „daß die Menschheit diese Erde nur vorübergehend bewohnt und daß diese kurze Zeitspanne ihr nicht das Recht gibt, irreparable Schäden in einem Universum zu verursachen, das vor uns existierte und nach uns weiterexistieren wird“, irritiert. Gerade das Nebeneinander von Altem und Neuem, moderner Technologie sowie uralten Mythen und shintoistischer Religion, von Fastfood und hochspezialisierter, hochverfeinerter Küche erlaubt, so will es mir scheinen, die Zerstörung der Natur, ihre Verbannung ins Kleinformat, in Rahmen und Nische, in die Abstraktion, und führt zu einem enormen Konformitätsdruck bei starken sozialen Spannungen in Familie und Gesellschaft.
Lévi-Strauss ist erst spät nach Japan gereist. 1977, da war er nahezu siebzig, besuchte er das Land zum ersten Mal. Es folgten vier weitere Reisen, die letzte unternahm er 1988. Die Texte, die der bei Suhrkamp erschienene Band „Die andere Seite des Mondes“ vereint, sind im Zusammenhang mit diesen Reisen entstanden: als Vorträge, die Lévi-Strauss in Japan gehalten hat, oder als Aufsätze, die in verschiedenen Zeitschriften publiziert wurden und in denen er seine Eindrücke, Beobachtungen, Schlussfolgerungen systematisierte. Anders als das in den 1950er Jahren geschriebene Nachwort, aus dem das obige Zitat stammt, verdanken sich diese Texte also nicht nur Lévi-Strauss’ von Europa aus gepflegter Japanophilie, sondern gehen auf eigenes Erleben und eigene Anschauung zurück.
Und da ist natürlich immer der mit strukturalistischer Methode vorgehende Ethnologe und Anthropologe unterwegs, der gleich im ersten Text, in dem er den „Platz der japanischen Kultur in der Welt“ zu bestimmen sucht, von der fundamentalen Schwierigkeit spricht, der sich alle vergleichende Kulturwissenschaft ausgesetzt sieht: „Kulturen sind ihrer Natur nach nicht miteinander vergleichbar. Alle Kriterien, auf die wir zurückgreifen könnten, um eine von ihnen zu charakterisieren, entstammen entweder ihr selbst und entbehren daher der Objektivität, oder sie stammen aus einer anderen Kultur und sind deshalb ungeeignet.“
Dennoch mache der Anthropologe, sagt Lévi-Strauss, genau das: Er beschreibt und analysiert Kulturen, die von seiner eigenen oft weit entfernt sind. Aber so wie die Distanz eine Quelle von Fehleinschätzungen sei, so sei sie, verteidigt Lévi-Strauss seine Wissenschaft, zugleich der Schlüssel für die Wahrnehmung wesentlicher, unveränderliche Merkmale, von denen aus der Nahsicht die vielen Nuancen und Details nur immer ablenkten.
Ein großes Thema der strukturalistischen Anthropologie sind Mythologie und familiäre Beziehungen. Beides gehört zusammen, denn in den Mythen wird immer erzählt, wie zusammengelebt, wie geheiratet, gestorben, vererbt wird, welche sexuellen Tabus bestehen und wie Verstöße gegen diese geahndet werden. Die Mythen erzählen vom Wesen und Wesentlichen einer Kultur, ihren Wertvorstellungen, ihrem Umgang mit Geburt, Leben, Sterben und Tod, ihrem Naturverständnis, ihren Ängsten, ihren Einschluss- und Ausschlussmechanismen. Lévi-Strauss stellt in der japanischen nicht nur einen außergewöhnlichen Reichtum an Motiven, eine Vielfalt der Elemente fest, die auf einen regen Austausch unterschiedlicher Kulturen seit dem Paläolithikum deuten, sondern sieht das Besondere vor allem in ihrem einzigartigen Können, das Verschiedene aufzunehmen, zu synthetisieren und in einem höchst originären Synkretismus zusammenzuführen.
Diese Fähigkeit zeige sich jedoch nicht nur in den großen Erzählbögen von Mythos und Religion, in den Glaubensvorstellungen und Riten, sondern auf jeder Ebene, sei es in der Musik, in der Literatur, im Theater, im Handwerk, bei der Kleidung oder in der Küche, und zwar sowohl auf Seiten des Materials als auch des Immateriellen, des Gefühls und der Vorstellung. Die japanische Kultur charakterisiert sich für Lévi-Strauss vor allem durch ihre beeindruckende Befähigung zur Inklusion des in europäischen Augen Unvereinbaren. Allerdings nicht auf Grundlage einer Mischung, sondern durch Modulation sowie – bei größter Aufmerksamkeit für das Detail, die Nuance, die Konsistenz, die Textur, und höchster Sparsamkeit der Mittel – durch Rahmung und Distanz.
Seiner Argumentation, insbesondere bei der Gegenüberstellung von französischer und japanischer Kultur, ist anzumerken, dass er sich der europäischen Grundprägung des Denkens in aufeinander bezogenen, sich jedoch diametral entgegenstehenden Gegensätzen, in These und Antithese, in Dichotomien, zu entziehen versucht. Dennoch bleibt es, sobald die bloße Beschreibung endet und der Vergleich beginnt, das Muster, das auch Lévi-Strauss, der Ethnologe und Strukturalist, immer wieder aufsucht.
Dabei gerät ihm der Blick auf Japan bis zuletzt allzu milde. Es bleibt, auch nach den Reisen, der eigenen Anschauung und Begegnung, vor allem Projektionsfläche, der von Kindheit an erträumte Ort einer anderen, heileren Welt. Von der jüngsten militaristisch-faschistischen Vergangenheit ist im Gespräch mit Junzo Kawada, das 1993 geführt wurde und das Ende des Bandes bildet, ebenso wenig die Rede wie von der ungeheuren ethnischen Homogenität, dem konservativen Geschlechterverhältnis, dem Leistungsdruck in den Schulen, den strengen Hierarchien und den unüberwindlichen sozialen Barrieren. Lévi-Strauss, der aus dem Land der Revolution kommt, schätzt an Japan ausgerechnet die restaurativen Tendenzen, das Bewahren und Fortbestehen der Tradition im Angesicht der Moderne. So sind die Texte eher mit Blick auf die japanische Ästhetik und vergleichende Mythenforschung, insbesondere die Verbindungen zwischen indianischen, indonesischen und japanischen mythologischen Erzählungen interessant, jedoch wenig aufschlussreich, was das Verständnis des gegenwärtigen Japan betrifft.
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