»Ein unerträgliches Lesewesen«
Wieder einmal war Clemens J. Setz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises mit einem Roman vertreten. Und wieder einmal ist ihm der Preis für den »besten deutschsprachigen Roman des Jahres« nur knapp vorenthalten worden. Handelte es sich 2009 noch um die große Familienerzählung „Die Frequenzen“, stand diesmal „Indigo“ zur Wahl – ein bei Suhrkamp erschienener Roman, welcher sich eines seltsamen, in esoterischen Kreisen bekannten Phänomens namens Indigo bedient. Betroffene Kinder, so heißt es, kämen mit einer indigoblauen Aura, und somit mit besonderen mentalen und spirituellen Eigenschaften zur Welt. Setz greift diese wissenschaftlich nicht anerkannte Idee auf und macht sie zum Krankheitsbild der Gegenwart und Zukunft, zum Syndrom, das seit den Neunzigerjahren vermehrt bei Kindern auftritt und schwerwiegende Symptome nach sich zieht.
Indigo, natürlich. Quelle: Wikipedia
Doch diese äußern sich nicht an den sogenannten Indigo-Kindern (abwertend auch Dingos genannt) selbst, sondern vielmehr an ihrer unmittelbaren Umgebung. Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindelanfälle, Hautausschläge, bis hin zu Migräne und Depressionen plagen jene, die sich den Kindern über einen bestimmten Zeitraum nähern. Um ihnen dennoch das Recht auf etwas Normalität und Bildung zu gewähren, wurden daher spezielle Institute mit weitläufigen Klassenzimmern gegründet. In einem davon, genauer gesagt im Proximity Awarenes and Learning Center Helianauin der nördlichen Steiermark – so erfährt man bereits auf den ersten Seiten im Autorenlebenslauf, als auch im Verlauf des Buches – unterrichtet ein gewisser Clemens J. Setz Mathematik – Jener Clemens J. Setz also, der dieses – von Judith Schalansky überaus schön und bedacht gestaltete – Buch geschrieben hat[1], in dem Fährten und Bilder gestreut werden, bis man nicht mehr weiß, was Realität und was nun eigentlich Fiktion ist. Oder umgekehrt: Jener Clemens J. Setz, der sich auf die Suche nach Informationen über »relozierte«, das heißt in etwa: verschwundene, verschleppte oder umgesiedelte I-Kinder, macht, dabei Materialen und Beweise für und über das Indigo-Phänomen in seiner grünen und rotkarierten Mappe zusammenträgt und im Jahr 2021 unter Verdacht steht, einem Mann bei lebendigem Leib die Haut abgezogen zu haben. Dieser Metafiktionalisierung des Autors und gleichzeitigen Protagonisten steht ein zweiter Erzählstrang in personaler Erzählhaltung gegenüber. Robert Tätzel, ein Maler und »ausgebranntes« I-Kind, erfährt aus der Zeitung, dass sein einstiger Lehrer jemandem »das Fell über die Ohren« gezogen haben soll, »in mühevoller Kleinarbeit, so wie [man] es mit Hasen und Füchsen machte.« Und auch Robert ist auf der Suche, zuerst vor allem nach Möglichkeiten, seine Aggression unter Kontrolle zu bringen, schließlich aber auch nach dem mittlerweile mäßig erfolgreichen Science-Fiction Autor Setz.
So ungefähr könnte der Plot zusammengefasst werden, ließe man außer Acht, wie hier mit aufwendigen Mitteln Türen geöffnet, Fährten gelegt, und vom Kriminalroman über Batman bis hin zum wissenschaftlichen Aufsatz alle möglichen Genres und popkulturellen Referenzen herbeizitiert werden, um schließlich doch einzig wieder in die Irre, oder besser gesagt: ins Nichts zu führen. Seite für Seite überhäufen sich die Bilder und Materialien, überbieten sich jeweils in ihrem Authentizitätsanspruch und ihrer Kuriosität. Ärztliche Atteste, Urban Legends, der Baum der Ténéré, die einsamste Telefonzelle der Welt, eine Faksimile von Johann Peter Hebels (vermeintlicher) Kalendergeschichte „Die Jüttnerin von Bonndorf“ mitsamt Quellenangabe, etc. – allesamt dermaßen um Echtheit bemüht, als wäre keinem davon in Gänze zu trauen. Doch noch bevor überhaupt die Frage nach Realien geklärt werden kann, liefert Setz bereits das nächste seltsam-schöne Bild, fast, als würde er seinen eigenen Bildern nicht wirklich vertrauen, als traue er ihnen nicht zu, mehr zu sein denn eine kurze, zweckdienliche Anekdote am Rande. Jeder aberwitzige und obskure Gedanke wird so zum Beweisstück für Indigo-Kinder und deren Relokation erklärt, ohne dass man ihnen im Einzelnen folgen könnte, geschweige denn müsste. Ferenc, dessen Name immer wieder bedrohlich mit eben diesen Relokationen in Zusammenhang gebracht wird und der wiederum »nicht einfach ein Mensch« und somit für-sich-stehend sein darf, sondern vielmehr ein »Prinzip, das von mehreren Menschen aufrechterhalten wird«, fragt an einer Stelle des Romans: »An welcher Stelle sind Sie denn ausgestiegen? «, und kurz hat man das Gefühl, hier werde ein Eingeständnis gemacht. Man muss nicht bei allem mitgehen, muss nicht alles glauben, verstehen, nachforschen, muss nicht jedem Bild, das einem vorgesetzt wird, die Aufmerksamkeit schenken, die es eigentlich verdienen würde, und vor allem muss man nicht alles wissen, was Clemens J. Setz, dieses »ungeheuerliche Lesewesen« – wie es der wohl schönste Tippfehler in dem Buch auf den Punkt bringt –, weiß. Denn würde man dies tun, würde bald auch die Bezeichnung „Roman“ wie ein Trick wirken, der schlimmstenfalls in die Irre führt.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben