Kritik

Auf Lotosfüßen durch Shanghai

Hamburg

Im Shanghai von 1926 zieht eine Großmutter aus ihrem Heimatdorf los, um ihre verschollene Lieblingsenkelin Pflaumenblüte zu suchen. Der Vater hat sie für tot erklärt als die Familie erfährt, dass sie als Kurtisane arbeiten soll. Ai Ping aber will das nicht akzeptieren und versetzt Familienschmuck um die geliebte Jüngste nach Hause zu holen. Clementine Skorpil entwickelt aus dieser Suche einen fulminanten, historischen Kriminalroman, rund um fiktive und reale Personen Shanghais.

Ai Ping, eine alte Frau mit gebundenen Füßen, den sogenannten Lotosfüßen, permanent geschwollenen Beinen und ohne jede Erfahrung mit den Gepflogenheiten in einer Großstadt, ist sowas wie der „Kopf“ der Suche nach Pflaumenblüte. Denn dass sie sich als Frau allein durch Shanghai bewegt, ist unerhört genug, durch Shanghais Madennester aber, wie die Bordelle zu dieser Zeit genannt wurden, unmöglich. Ausgerechnet einen Kommunisten, den sie bei seinem Einsatz für unterdrückte und ausgebeutete Fabrikarbeiter beobachtet, spannt sie mit Hilfe ihres Geldes für die Suche ein, und hat mit Lou nun auch die „Beine“ für ihr Unternehmen. Bemerkenswert, wie die Autorin diese beiden konträren Figuren miteinander agieren lässt, voller Witz und Ironie, aber auch Sachkenntnis und Liebe zum sinnvollen Detail. Der idealistische Lou nutzt jede Gelegenheit, seine kommunistischen Ideen zu äußern, vom Niedergang des Kapitalismus zu reden und zu prophezeien, dass Shanghai bald eine klassenlose Gesellschaft ohne Ausbeutung sei. Ai Ping lässt ihn reden und tut seine Worte á la „Du wirst schon auch noch groß werden“ ab. Für den Leser zeigen sich so beinahe nebenbei die Abgründe der Industrialisierung in den 1920er Jahren. Trotz aller Gegensätze lässt sich Lou dann aber überzeugen, in den Freudenhäusern nach Pflaumenblüte zu suchen.

Schnell findet „der Student“, wie Ai Ping Lou nennt, heraus, in welchem Bordell Pflaumenblüte gearbeitet hat, aber auch, dass sie verschwunden ist. Die junge Kurtisane soll ihren Freier, einen einflussreichen Großindustriellen, ermordet haben, wird von sämtlichen Verbrecherkartellen der Stadt gesucht und bleibt spurlos verschwunden. Ist sie vielleicht sogar selbst schon tot? Jetzt ist auch Lous Jagdtrieb geweckt, war der tote Liu Er doch auch einer von denen, gegen die Lou mit seinen Kommunisten Genossen, zu denen auch Mao Zedong gehört, ankämpfen.

Die vielen Verwicklungen des Falls machen das Buch spannend, die kenntnisreichen Beschreibungen der Stadt zu einem echten Juwel. Man riecht Shanghai im Jahre 1926, man sieht es förmlich, hört den Straßenlärm und erfährt, was für ein Schmelztiegel die aufsteigende Metropole in den 1920er Jahren war. Aufgeteilt in verschiedene Zonen, wie der französischen oder amerikanischen, stand jede unter der Kontrolle einer anderen Gang. Korrupte Polizei und Politiker lassen sie agieren oder gehören selbst zu ihnen, alles wird dem Opiumhandel untergeordnet. Die verschiedenen Gangs kontrollieren den Handel, bekämpfen sich gegenseitig und sind die eigentlichen „Herren“ der Stadt. Die einflussreichste, mit der es auch Ai Ping und Lou vor allem zu tun bekommen, ist die „Green Gang“, die schon deshalb im Gedächtnis bleibt, weil Skorpil den Namen für Ai Ping zum für den Leser amüsanten Zungenbrecher macht. Englisch hat sie in ihrem Dorf nie gehört, geschweige denn Spanisch oder Französisch. Lou dagegen, der in Frankreich Medizin studierte, spricht die „Schnupfensprache“, wie Ai Ping auf Grund ihres Klanges das Französische nennt.

An der Figur der Großmutter wird am besten deutlich, wie groß die Gräben der verschiedenen Lebensformen im historischen Shanghai sind. Lou setzt sich beispielsweise wie selbstverständlich in ein Auto, während sich Ai Ping in einer Rikscha durch die Stadt tragen lässt, wobei ihr schon mal der ein oder andere Rikscha-Zieher wegstirbt. Als sie dann doch mal in einem dieser Autos sitzt, leidet sie Höllenqualen.

In einem modernen Hotel läuft die Frau mit den gebundenen Füßen, die sich sonst am liebsten bis in ihr Zimmer tragen lässt, lieber fünf Stockwerke die Treppen hinauf, statt in diese „furchtbare Kammer“ (wir ahnen es, der Fahrstuhl ist gemeint) zu steigen. Und dies ist die besondere Stärke des Buches, neben den historischen Entwicklungen, dem spannenden Kriminalfall und der atmosphärischen Dichte. Die ironische, teilweise zum schreien komische Erzählweise Skorpils. Die beiden Hauptfiguren stecken voller Selbstironie, Naivität und Witz, was sie beim Kampf gegen den übermächtigen Gegner auch brauchen.

Clementine Skorpils Debütroman „Gefallene Blüten“ ist ein tolles Stück Literatur. Er steckt voller historischem Wissen, spannenden Entwicklungen, witzigen Dialogen und ist doch mehr, als reine Unterhaltung. Immer wieder blitzen auch feministische Züge auf. Der Roman beschäftigt sich unterschwellig durchgehend mit der Rolle der Frau, mit ihren Emanzipationsbemühungen und den Gräben vor denen sie stehen. Wenn eine Frau lieber Kurtisane ist, als Ehefrau in einem ländlichen Dörfchen, ist das mehr als bloße Kritik. Ai Ping, die traditionellste aller Figuren im Roman ist es, die gegen die traditionelle Rolle aufbegehrt, auf ihre eigene Weise, und uns so auch für das Heute eine Botschaft mitgibt. Sie ist es schließlich, die erkennt, dass auch sie selbst mit ihren Rollenbildern Pflaumenblüte zu ihrer Flucht getrieben hat und mit ihrer Suche nach der Enkelin mehr als nur Wiedergutmachung sucht. Am Ende versteckt sich dezent eine Parabel, die uns lehrt, dass selbst eine Großmutter noch verkrustete Weltbilder aufbrechen kann.

„Gefallene Blüten“: ein historischer Kriminalroman, liebevoll entwickelt, toll erzählt, kenntnisreich recherchiert ohne zu erdrücken. Und alles in allem gar mit feministischer Botschaft, so hintergründig entwickelt, dass sie zwar über allem schwebt, aber nie dominant den Text erschwert. Ein Glück, dass der CulturBooks Verlag den 2013 im Argument Verlag erschienen Kriminalromen nun neu verlegt hat.

Clementine Skorpil
Gefallene Blüten
Culturbooks
2015 · 320 Seiten · 7,99 Euro
ISBN:
978-3-944818-72-6

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