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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

Coming of Age Story

Hamburg

Ein wenig komme ich mir nach der Lektüre wie ein alter Mann vor, vielleicht, weil der Tod in meiner Lebensphase eine weit geringere Rolle spielt, als damals  in der Postpubertät. Ich weiß auch gar nicht, ob ich mich an den Gedanken gewöhnt habe, einmal sterben zu müssen, oder ob ich ihn einfach verdränge, wohl etwas von beiden, aber ich fahre ganz gut damit.

Mae, die Protagonistin in Cornelia Travniceks Roman „Chucks“ jedenfalls ist vom Sterben umzingelt, wo sie auch hinschaut, stirbt es.
Fast alles und jeder, außer die Axolotls ihres letzten Freundes, die Katze, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hat und natürlich die Protagonistin selbst: „Draußen dreht sich die Erde weiter, bis die Dächer Wiens sich vor die Sonne schieben.“, heißt es versöhnlich am Ende.

Das Buch ist der erste Roman der 1987 geborenen Autorin reiht sich in die Liste der Coming of  Age Storys ein,  irgendwo wird auch Plenzdorf zitiert und der Fänger im Roggen schwebt ohnehin über allen. Aber im Gegensatz zu den „Neuen Leiden des jungen W.“  steht hier eine junge Frau im Zentrum.

Zuerst stirbt ihr Bruder, von dem sie die roten Chucks übernimmt, er stirbt an Leukämie. Daran zerbricht ihre Familie, der Vater kratzt die Kurve, die Mutter zieht in eine kleinere Wohnung und veranstaltet Tupperpartys. Mae zieht auf die Straße und mit einer Punkerin namens Tamara herum, die irgendwann im Laufe der Handlung eine Überdosis knapp überlebt. Später wird Mae zu Arbeitsstunden verurteilt, die sie in einer Aidsstation ableistet. Dort lernt sie Paul kennen, der sich bei der Arbeit in einem Krankenhaus infiziert hat.

Mae, die zu der Zeit gerade in einer ziemlich langweiligen Beziehung mit einem eher phlegmatischen Bauzeichner oder Architekten steckt, zieht letztlich zu Paul und begleitet sein Sterben. Auf einer Tupperparty ihrer Mutter ersteht sie eine gewisse Anzahl Tupperdosen, in denen sie Haare und andere Reste von Paul gleichsam konservieren will.

Aber vielleicht ist der Tod auch gar nicht Maes Grundproblem:

„In Wahrheit sind das Problem wir. Unser Leben ist eine Art Quant, unsere Welt hätte jeden möglichen Zustand gleichzeitig, wären wir nicht hier und würden sie Beobachten und uns festlegen.“ Dieses Resümee zieht die Icherzählerin irgendwann in der Mitte des Buches und es zeigt etwas von der Komposition des Romans an. Die verschiedenen Substorys, sind nämlich auf ziemlich kunstvolle Weise mit einander verflochten und die Chronologie wird dadurch aufgehoben, so dass die Spielform des Sterbens, die gerade verhandelt wird, nie eine deprimierende Wucht gewinnt. In der Tragik entfaltet sich Humor und das erst macht die Lektüre lohnenswert.

Gegen die Eltern ist das Buch aber unerbittlich: „Alle prosten einander zu … „auf noch einmal zweiundfünfzig Jahre!“ „Bloß nicht sagt meine Mutter.“In diesem Punkt allerdings könnte ich die Protagonistin beruhigen. Dass der Lebenswille mit dem Alter abnimmt, ist keinesfalls verallgemeinerbar.

Cornelia Travnicek
Chucks
DVA
2012 · 192 Seiten · 14,99 Euro
ISBN:
978-3-421045263

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