Wenn in Bukarest die Linden blühen.
Was fängt eine Bankerin mit sich an, die beurlaubt wird und mit einem Mal über fast unbeschränkte Zeit verfügt? – In Dana Grigorceas Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ kann man eine mögliche Antwort ganz unmittelbar, beinahe in Realzeit, mitverfolgen. Victoria, die Icherzählerin, wird nach einem kuriosen Überfall auf die Bukarester Bank, in der sie arbeitet, vorübergehend freigestellt. Nun schlendert und fährt sie während eines Sommers durch die Stadt, trifft Menschen von früher wieder, entdeckt ihre Heimatstadt neu und besucht – mehr pro forma denn aus Überzeugung – therapeutische Sitzungen, die sie vom vermeintlich erlittenen Schock kurieren sollen. Auch schickt sie sich an, ein paar Familienangelegenheiten zu ordnen und die Besitzverhältnisse eines Weinbergs zu klären.
Victoria ist noch unter dem kommunistischen Regime aufgewachsen, doch unterdessen hat sie, deren Name auch an den Sieg über die Diktatur erinnern soll, eine Zeitlang im Ausland gearbeitet und etwas von der Welt gesehen. Während sie sich nun durch Bukarest treiben lässt, spaltet sich die Stadt gewissermaßen auf: Neben dem gegenwärtigen Bukarest ersteht auch wieder das alte Bukarest, dasjenige aus der Zeit vor der Wende, das freilich nicht nur durch die Trostlosigkeit des real existierenden Sozialismus geprägt ist, sondern trotz allem noch einen gewissen Glanz aus früheren Zeiten bewahrt hat. Victorias Familie hat ihre Wurzeln in einem gutbürgerlichen Milieu, das bis in die Vorkriegszeit zurückreicht und dessen Andenken man sorgsam pflegt. So steht man zur Epoche Ceaușescu in innerer Opposition und versucht, in düsterer Zeit einen Anschein von Zivilisation und Zivilisiertheit zu wahren.
Man kann wohl gar nicht anders, als Dana Grigorceas zweiten Roman immer auch ein wenig auf dem Hintergrund von Mircea Cǎrtǎrescus Orbitor-Trilogie zu lesen, die sich Bukarest zur eigentlichen Heldin erwählt hat. Wobei „Roman“ für Grigorceas Buch vielleicht nicht ganz der richtige Begriff ist: Man müsste wohl eher von locker miteinander verbundenen, episodenhaften Szenen sprechen; eine eigentliche Handlungsentwicklung gibt es nicht. Zwar vergeht über Victorias Streifzügen tatsächlich Zeit. Doch bleibt die Zeit andererseits geradezu suspendiert: Es ist stets derselbe Sommer, dessen Stillstand in den immer wieder erwähnten Lindenblüten seinen bildlichen (und olfaktorischen!) Ausdruck findet. Die Szenen sind letztlich nur durch die Wahrnehmung und die Person der Icherzählerin verbunden, an der ein ganzer Reigen von Figuren vorüberzieht, die mitunter mehrmals auftauchen und wieder verschwinden. Dazu gehören etwa Victorias Freund Flavian und ihre früheren Liebhaber; es wären hier aber auch ihre Familie und die Bewohner der Nachbarschaft im Stadtzentrum zu nennen. Sie tragen alle ein paar Mosaiksteine zum Bild des verdoppelten Bukarest bei, das nach und nach vor den Augen der Leser in die Höhe und in die Breite wächst. Dabei verwandelt sich Grigorceas Buch stellenweise ein wenig in einen Reiseführer, der mit fast schon landeskundlich anmutenden Informationen zu Kirchen, Straßen oder Galerien aufwartet. Bukarest wird mit Hilfe seiner Parks und Plätze, Buslinien und Fahrradwege quasi vermessen, wobei auch die Stimmen der Stadt zum Zug kommen, ihre Sängerinnen und Sänger. Dass dabei übrigens hie und da ein paar Zeilen in einem späteren Kapitel beinahe wörtlich wiederholt werden, scheint noch einmal darauf hinzudeuten, dass dieses Buch eher als eine Folge von Bildern konzipiert worden war denn als ein Roman.
Die Rezensenten haben verschiedentlich auf den Humor und die Ironie in Grigorceas Buch hingewiesen. Allerdings wurde als Beleg dafür fast immer die gleiche Szene vorgebracht, was an und für sich schon ein wenig verdächtig wirkt. Gemeint ist hier Michael Jacksons Auftritt in Bukarest, der kolossal scheitert (warum, möge man selber nachlesen). Sicher, Grigorceas Stil ist von einer großen Leichtigkeit geprägt, der auch eine gewisse Ironie nicht fremd ist. Aber sie zeugt eher von einem feinen Sensorium der Autorin für die kleinen Absurditäten, die selbst in ernsten Augenblicken und Situationen enthalten sein können. Grob ist dieser Humor sicher nicht, aber gerade deshalb stellt er eine Stärke des Buches dar.
An Grigorceas Sprache überzeugen grundsätzlich die Unbeschwertheit und die gewisse Unschärfe, die bisweilen mit Raffinesse und Vornehmheit zusammentreffen und auf diese Weise eine ganz eigene und sympathische Mischung ergeben. Auch ein paar gelungene Wortschöpfungen verdienen hier Erwähnung – etwa der „Fellknödel“ (für einen Hund) oder die „Maiskörnerfontänen“. Allerdings weist das Buch aber gerade in seiner sprachlichen Gestallt auch einige ärgerliche Schwächen auf. So ist es offenbar kaum lektoriert worden, worauf eine ganze Reihe Schnitzer hinweist. In die französischen Ausdrücke und Zitate haben sich viele Fehler eingeschlichen (Marechal statt korrekt Maréchal; Crème brulée statt richtig Crème brûlée; Kadril statt richtig Quadrille; Bucharest – das ist Englisch, aber nicht Französisch, usw. usf.). Das erstaunt einen vielleicht schon nicht mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass in Zürich (wo der Dörlemann Verlag angesiedelt ist) die Französischkenntnisse seit Jahren abnehmen. Bedauerlich ist es gleichwohl. Im Weiteren wird einer der großen Plätze Bukarests, die Piața romanǎ, im Text mal als „Römischer Platz“, dann wiederum als „Romanischer Platz“ bezeichnet. Dazu kommen zahlreiche Druckfehler, wie etwa „dank meiner hohen Absätzen“ oder „Lagefeuer“ (statt Lagerfeuer), um nur zwei Beispiele zu nennen. Und beim „Polarbär“ (der auf Rumänisch in der Tat so heißt) wäre dann vielleicht doch die deutsche Übersetzung „Eisbär“ besser, weil vertrauter gewesen.
Am meisten irritiert jedoch eine Eigenschaft des Satzbaus, nämlich die sehr ausgeprägte Tendenz, die Verben voranzustellen. Dies wird beispielhaft im folgenden Satz deutlich: „Doina ist Nonne geworden im Stavropoleos-Kloster, das keine hundert Meter von meiner Bank entfernt liegt auf der Siegerstraße“. Zwar ist diese Manier in den letzten Jahren im Deutschen häufiger zu beobachten; es scheint, dass sie unter anderem von den Moderatoren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zunehmend gepflegt wird. Man kann diese sprachliche Entwicklung gut oder schlecht finden. Sie hat jedenfalls etwas Gravitätisches und manchmal Ungelenkes an sich, wobei man (zumindest in den Medien) hie und da den Eindruck bekommt, die Schwere der Sprache wolle das mangelnde Gewicht der Argumente kaschieren. Die Verwendung einer derartigen Syntax als Stilmittel in der Literatur müsste freilich motiviert sein, müsste mithin also auch in Grigorceas Buch deutlich legitimiert werden. Dies ist allerdings nicht der Fall. Anders dagegen bei Gerhard Meier in seiner „Amrainer Tetralogie“: Dort erscheint ein solches Vorziehen des Verbs als ein klares Charakteristikum von mündlicher Sprache, wie sie ja in den langen Gesprächen der Protagonisten Baur und Bindschädler gezielt inszeniert wird.
Natürlich ist das Ungefähre, das Diffuse und Unscharfe eines der Themen von Dana Grigorceas Prosaband. Victoria befindet sich in einem Schwebezustand zwischen dem alten und dem neuen Bukarest, zwischen Zürich und Bukarest, zwischen West und Ost, zwischen der Arbeit und dem Nichtstun – und vielleicht auch zwischen den Sprachen Deutsch und Rumänisch, obwohl letzteres im Buch gar nicht thematisiert wird. Doch schiene es eindeutig zu weit hergeholt, wenn man nun argumentieren wollte, der Charakter der Sprache trage dieser Tatsache gewissermaßen Rechnung.
Was aber ist denn nun jenes „primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“? – Es ist wohl vor allem die Lebenseinstellung jener Generation, der auch Victoria angehört. Einer Generation, die am Übergang zwischen zwei Epochen steht und die nach der Wende auf einmal ganz neue Möglichkeiten hat, diese aber kaum sinnvoll nutzt. Man lässt sich lieber treiben, versinkt in Erinnerungen, weigert sich, Verantwortung zu übernehmen. Und so erhält der Begriff „Schuldlosigkeit“ unvermittelt einen doppelten Sinn: Man glaubt, man habe keine Schuld auf sich geladen, und man meint, niemandem etwas schuldig zu sein. Victoria steht hierfür stellvertretend, und so ist Dana Grigorcea in dieser Figur ein eindrückliches und überzeugendes Generationenporträt gelungen. Gerade im Namen der Protagonistin enthüllt sich zuletzt noch einmal die feine Ironie, die den Grundton dieses Buches ausmacht: Zur Siegerin taugt Victoria nämlich nicht wirklich.
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