Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Im Spannungsfeld virtueller Ein- und Zweisamkeit

Sie trifft ihn, er trifft sie im Cyberspace. Man kommt sich näher, lernt einander kennen – alles ganz unverbindlich, versteht sich. Irgendwann will man es doch wissen. Man verabredet sich in einem Café und ist enttäuscht.

Dass sich Daniel Glattauer mit der simpelsten Version einer virtuellen Romanze nicht zufrieden geben würde, erstaunt freilich nicht. Schon der Beginn des Romans deutet auf einen cleveren Autor hin, dem zum inzwischen alltäglich gewordenen Thema Virtualität einiges einfällt. Doch nun zur Sache: Ein verirrter Weihnachtsgruß, abgeschickt von einer gewissen E. Rothner, landet in der Mailbox von Leo Leike, der sogleich eine Probe seiner Eloquenz abgibt: „Liebe Emmi Rothner, wir kennen uns zwar fast noch weniger als überhaupt nicht. Ich danke Ihnen dennoch für Ihre herzliche und überaus originelle Massenmail! Sie müssen wissen: Ich liebe Massenmails an eine Masse, der ich nicht angehöre.“

Wer dergleichen formuliert, kann kein Mister Nobody sein, ahnt Emmi, die nun nicht mehr locker lässt. Und sie hat Recht, denn hinter Leo Leike (warum können Romanfiguren bloß nicht so heißen wie reale Personen?) steckt ein Kommunikationsberater und Uni-Assistent für Sprachpsychologie, der zufällig den Einfluss von E-Mails auf unseren Sprachgebrauch und darüber hinaus ihre Bedeutung als Vermittler von Emotionen untersucht. Na also!
Emmi Rothner (wieder so ein Figurenallerweltsname) hat Glück. Aber auch ihr E-Mail-Partner. Immerhin ist sie gnadenlos scharfsinnig, schlagfertig, sarkastisch und umwerfend weiblich, sofern Briefe einen derartigen Rückschluss überhaupt zulassen. Jedenfalls entwickelt sich aus dem anfänglichen Geplänkel allmählich eine sinnliche, hochgradig geistreiche Beziehung (man merkt es schon: hier fehlt etwas), in deren Verlauf überzeugend gezeichnete Psychogramme ans Tageslicht kommen.

Emmi ist mit dem um einige Jahre älteren Bernhard glücklich verheiratet. Ihr Mann hat zwei Kinder in die Ehe mitgebracht und betet seine Gattin an. Nie würde er sie betrügen oder im Stich lassen. Bernhard steht eben für Sicherheit und Konstanz, da kann eigentlich nicht mehr viel schief gehen. Da der partnerschaftliche Gleichlauf auf Dauer lähmen kann, schlittert Emmi in eine außereheliche Affäre. Das heißt, genau genommen bleibt das Verhältnis auf eine E-Mail-Korrespondenz beschränkt, deren Unverfänglichkeit unversehens auf verbalerotische Abwege gerät. Damit nicht genug: Emmi und Leo, die es weiterhin vorziehen, einander zu siezen, verstricken sich in einem Netz wechselseitiger Abhängigkeit, verlieren sich im Taumel „virtueller Zweisamkeit“, deren finale Erfüllung von den Protagonisten gleichermaßen gewünscht und gefürchtet wird. Schließlich ringen sie sich zu einem Rendezvous durch. Streng nach der von ihnen konzipierten Inszenierung suchen sie innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens ein Café auf, ohne dabei ihr Inkognito aufzugeben. Dass sich keiner zu erkennen gibt, bereichert die „innige Unbekanntschaft“ um eine zusätzliche Facette und stachelt zudem ihre Neugier an. War sie die langhaarige, vollbusige Blondine an der Bar? War er etwa einer jener ekelhaften Mannsbilder, die sie argwöhnisch musterte? Aus diesem Suchbild werden Emmi und Leo im Nachhinein nicht klug, die Spannung wird indes angeheizt.

Zunehmende Brisanz gewinnt allerdings auch die Frage, wie ihre Beziehung weitergehen soll. Luzid durchleuchten sie ihren Mailverkehr und kommen gemeinsam zu dem Schluss: aufhören oder treffen, denn ihre aufregende Korrespondenz, die allmählich pathologische Züge annimmt, hat längst begonnen, die Privatsphäre in Mitleidenschaft zu ziehen. Leo sieht sich angesichts des intensiven elektronischen Austauschs gezwungen, seine Mitarbeit an dem Forschungsprojekt über E-Mails und Sprachverhalten zu beenden. Emmi wiederum entfremdet sich zusehends ihrer Familie. Vergeblich verordnen sich die beiden E-Mail-Pausen und üben sich in elektronischer Enthaltsamkeit. Selbst als Emmi versucht, Leo mit ihrer unwiderstehlicher Freundin Mia zu verkuppeln, gerät die Cyberliebschaft nicht ins Wanken.
Durch Emmis permanente Geistesabwesenheit alarmiert, beginnt Bernhard indessen, nach Indizien einer außerehelichen Affäre zu suchen, und wird fündig. Sämtliche ausgedruckten Mails fallen ihm in die Hände. Jetzt schreitet der besonnene Mann zur Tat. In einem freundlichen, aber bestimmten Schreiben fordert der gehörnte Gatte seinen Nebenbuhler auf, sich um Himmels willen das nicht stattfinden wollende Stelldichein zu gönnen. Nur so könne die erlösende Ernüchterung in die Wege geleitet werden. Leo erhält sogar einen Freibrief für einmaligen Geschlechtsverkehr, dann müsse der Spuk allerdings aufhören.

Es wäre schade, den Ausgang der brillant choreographierten Geschichte an dieser Stelle preiszugeben. Begnügen wir uns daher mit dem Hinweis, dass Glattauer mit einem unerwarteten Schluss für Überraschung sorgt und damit erneut sein erzählerisches Talent unter Beweis stellt. Abgesehen von gewissen Längen im letzten Drittel gelingt es dem Autor nämlich durchwegs, den Leser bei Laune zu halten, wozu nicht zuletzt eine mit Pointen durchsetzte Sprache beiträgt. So weit der rein handwerkliche Aspekt von Gut gegen Nordwind.

Inhaltlich lässt der Text, der einer modernen Version des guten alten Briefromans gleichkommt, ebenso wenig zu wünschen übrig. Das von keiner realen Konsequenz eingeengte Verhältnis zwischen Leo und Emmi gestattet beiden außerordentliche Offenheit und Dreistigkeit und erweist sich als ideale Entstehungsbedingung von Phantasmen. Die körperliche Abwesenheit der Briefpartner, die durch den Umstand verstärkt wird, dass sie einander noch nie begegnet sind, gibt den Schreibern die Möglichkeit, ihr jeweiliges Wunschbild vom Partner zu kultivieren. Im lustvollen Blinde-Kuh-Spiel tasten sie einander träumend ab und erlauben sich in stets neuen Anläufen, „echt“ zu sein, indem sie der Wirklichkeit ausweichen. Und weil sie virtuos mit dem Medium Sprache umzugehen wissen, verlieben sie sich in das Wort und setzen es in eins mit dem Sprecher. „Schreiben ist küssen mit dem Kopf“, meint Leo in einer Aufwallung romantischer Gefühlen, die er in einem realen Tête-à-tête möglicherweise nicht zuließe.

Emmi wird in den mit Leo verbrachten Stunden am Computer ebenfalls von Empfindungen überwältigt, die in der leidenschaftslosen Modellehe mit Bernhard zu kurz kommen. Eifersucht, Leidenschaft, Koketterie und sehnsüchtiges Verlangen steigern sich von Mail zu Mail. Leo, das ist die praktische Ergänzung von außen, Emmi hingegen „die virtuelle Alternative“. Der beziehungsscheue Junggeselle und die erfahrene Ehefrau erleben in ihrer Annäherung, die auf Aufschub beruht, den ultimativen Kick. Das ist nicht viel und doch nicht wenig, wenn man dafür hält, dass die wahren Abenteuer im Kopf sind. Gut gegen Nordwind scheint mir jedenfalls eine gelungene Parabel auf Liebesnot und –leid im Spannungsfeld virtueller Ein- und Zweisamkeit. Hochdruckpatienten wird von der Nachahmung allerdings abgeraten.

Daniel Glattauer
Gut gegen Nordwind
Goldmann
2008 · 244 Seiten
ISBN:
978-3-442465866

Fixpoetry 2009
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge