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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Irrer Spaß

Hamburg

Was sollte man nur mit all diesen wertlosen Kurven
anfangen? Die Diskrepanz zwischen den dürren Kurven und einer
komplexen, wie auch immer gearteten psychischen Erfahrung. Warum
noch über Alpha- oder Betawellen diskutieren? Was man etwa dringend
brauche, das seien neue, leistungsstärkere Geräte.

Morgen Abend wird in Berlin in der Z Bar das literarische Debüt Daniel Kettelers ausgeliefert und vorgestellt . Das wird sich als ein literarisches Ereignis erster Güte erweisen und wahrscheinlich auch als satte Party. Denn Ketteler steigt hoch ein in die Kunst, und er ist ein Tausendsassa. Mitherausgeber der Literaturzeitschrift [sic], Verleger Musiker und Arzt. Aber nicht einfach irgendein Arzt, nein, er ist zu allem Überfluss Nervenarzt, wie meine Mutter sagen würde. Das heißt schon mal, Ketteler weiß, wovon er schreibt, oder zumindest weiß er, was man auf wissenschaftlicher Seite zu wissen glaubt, und auch, dass oftmals das, was als Wissen verkauft wird, im Grunde nur eine Erzählung ist, gut ausgedacht, mit einigen materialen Anhaltspunkten, eine Erzählung, die ihre eigene Logik generiert. Ein Roman also, der die Welt schafft, eine Welt, die sich dann mehr oder weniger literarischen Mitteln bedient. Ich werde wahrscheinlich nach dieser Lektüre nie wieder an ein EEG angeschlossen werden können, ohne erheblich kichern zu müssen.

»Grauzone« von Daniel Ketteler. 20. Oktober 2012, Z-Bar, Berlin
Illustration: Martina Wember

Ketteler selbst bedient sich irrwitziger, sich gegenseitig aufhebender Logik, wenn er die Geschichte mit dem Namen Grauzone zelebriert, eine Handlung, die sich mehr oder weniger über hundert Jahre erstreckt und in der Gegenwart explodiert, dass es nur so eine Freude ist. Martina Wember hat den Band hervorragend illustriert, dem Wahnsinn einen kühlen nüchternen Strich verpasst, was ihn nur noch mehr hervortreten lässt.

Wir werden in die Schichtungen eines Krankenhauses geführt, das ein Unternehmen ist, welches sich den eigenen Untergrund schafft. Und ähnlich funktioniert Kettelers Roman. Die Gegenwart der Ärzte und Patienten ist durchbrochen von historischen Splittern und sie erweist sich als Schlachtfeld. Klassisch würde man sagen, dass sich in ihr ein historischer Konflikt austrägt, aber das träfe die Präsenz nicht, die eben jener Konflikt in jeder Zeit hat ohne abzukühlen. Man hat den Eindruck, dass vor allem die Ärzte immer schon die Kranken waren, dass sich die Gegenwart um ihre Zwangsvorstellungen herum konstituiert.

Was mir immer Vergnügen bereitet ist, wenn Aspekte der Wissenschaftsgeschichte mit einer literarischen und der realen Geschichte verknüpft werden und sich das, was wir ehrfurchtsvoll Wissenschaft nennen, als hart an der Grenze zum Irrsinn erweist. Wenn sich der technische Fortschritt als Abprodukt militärischer Entwicklungen zeigt, oder zumindest von kriegerischen Erwägungen geprägt und beeinflusst. So hörte ich, immer wenn in diesem Buch von einem EEG die Rede war, zugleich irgendwo eine Bombe detonieren.  Aufklärung über die Aufklärung, die sich in der Wissenschaft einen eigenen Mythos geschaffen hat.

Der Irrsinn selbst aber wird hierdurch zum Vater des Fortschritts. Und es ist  kein Wunder, dass die eine oder andere zentrale Figur der Literaturgeschichte ein wahnsinniger Wissenschaftler ist, der letztlich die durch die Säkularisierung frei gewordene Leerstelle des Teufels einnimmt, wahnsinnig geworden am manischen Wissensdurst oder an einer fixen Idee. Beispiel dafür ist der Akustiker in Marcel Beyers Roman „Flughunde“ oder der berühmte Dr. Doolittle, der die Sprache der Tiere erlernt.

Am eindringlichsten aber erfährt man die dünne Haut am Ort der Produktion von Normalität und Wahnsinn, dem Irrenhaus, der Nervenheilanstalt, der psychiatrischen Klinik oder wie auch immer man diesen Ort nennen will, der das geheime Herz und Angstzentrum unserer Gemeinden ausmacht. In Chemnitz hieß es immer, du kommst in die „Dresdner Straße“ und man wusste dann schon, was gemeint war.

Ein nicht unbeträchtlicher Teil eines der zentralen Werke der europäischen Moderne spielt an solchen Orten, der künftige Diener des Grafen Dracula experimentiert hier mir Klein- und Kleinstlebewesen. Und auch Peter Weiss lässt in einer Irrenanstalt de Sade mit einer Theatergruppe die französische Revolution nachspielen. Mit Kettelers Version  Bergers, Vater des EEG, bekommt diese illustre Schar keinen unbeträchtlichen Zuwachs, und dieser Roman hat wie die anderen erwähnten das Zeug zum Klassiker.

Denn Daniel Ketteler führt den Leser  an den Abgrund der abendländischen Zivilisation, den Punkt, an dem wir ihre Psychogenese bestaunen können. Der Ort, an dem die Grenze von Patient und Arzt verschwimmt, Psychiaterinnen gedanklich ihre sexuellen Obsessionen organisieren und aus zerlegten Kühlschränken Instrumente zur Gedankenübertragung entstehen sollen.  Jeder, aber auch jeder hier ist irgendeiner Substanz verfallen, abhängig und ausgeliefert.

Die oben angeführten Referenzen (Stoker, Beyer, Weiss) sind mit Bedacht gewählt. Ich glaube nämlich, dass wir es hier mit einem herausragenden Werk zu tun haben. Und um das Namedropping des Irrsinns zu vervollkommnen, sei nun auch noch Foucaults Erstling Wahnsinn und Gesellschaft genannt und dessen Versuch, dem Irrsinn systematisch beizukommen, ein Versuch, bei dem der Wissenschaftler feststellt, dass es das System ist, das den Wahnsinn zuallererst hervorbringt. Und wie alles, was am Abgrund des Schreckens sich abspielt, ist Grauzone urkomisch.

Daniel Ketteler
Grauzone
J.Frank
2012 · 200 Seiten · 13,90 Euro
ISBN:
978-3-940249579

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