Da, wo wir sein müssen
Neuzeitliches Nomadentum: Man hat die Wohnung und schon fragt man sich, wie lange man eigentlich bleiben wird. Das Studium dauert schließlich nicht ewig, das Praktikum ist bald vorbei, dieser Job ist nur befristet, dieser auch und demnächst will man eine gemeinsame Wohnung. Natürlich woanders. Hier ist nicht „richtig“, oder? Jede Wohnung ein Zuhause auf Zeit, das Leben eine unendlich andauernde Übergangsphase. „Manchmal ist man nicht in der Lage zu erkennen, dass so etwas wie Zufriedenheit möglich ist,“ sagt Daniel Schreiber, „weil diese Zufriedenheit so klein wirkt neben dem Glück, das man sich wünscht.“ Schlauer Mann. Neben diesem Wohlstandsphänomen sind heutzutage Millionen Menschen auf der Flucht. Menschen, die aufgrund von Krieg und Vertreibung ihre Heimat aufgeben müssen, obwohl sie gar nicht wollen.
Was ist Zuhause? Daniel Schreiber hat sich diese Frage oft in seinem Leben gestellt und jetzt ein Buch darüber geschrieben. Der Autor ist 40 Jahre alt und lebt heute, wie er sagt glücklich, in Berlin. Zuvor machte er Station in London, davor in New York und davor lebte er schon einmal in Berlin. Nachdem er in London gelebt hatte. Umziehen ist allerdings nicht sein Beruf, da schreibt er Kunstkritiken, eine Susan-Sontag-Biographie oder seinen vielgelobten Essay Nüchtern. Über das Trinken und das Glück, der 2014 bei Hanser erschien. In Schreibers neuestem Buch beschäftigt sich der Autor - erneut auf essayistische und persönliche Weise - mit dem Ankommen, einer der grundlegendsten Auseinandersetzungen, die jeder von uns im Leben führen muss. Denn nur, wer ankommt, kann glücklich werden, stellt Schreiber fest und flankiert seine These mit Texten aus Philosophie und Psychologie der letzten beiden Jahrhunderte.
Schreiber selbst nennt seinen Essay eine „Mischung aus intellektuellen Überlegungen und persönlichen Erzählungen“. Die persönlichen Erzählungen nehmen einen großen Teil des Buches ein, das mit 135 Seiten übersichtlich bleibt. Eine Rückschau, die der Autor, wie er sagt, lange gescheut hat. Schreiber wuchs in der DDR auf, in einem mecklenburgischen Dorf, das für homosexuelle Jungen nicht viel übrig hatte. „Das Schlimme waren die Erzieherinnen, die es sich zur Aufgabe erkoren hatten, mich ‚normal‘ zu machen.“ Nach dem Fall der Mauer erlaubt eine glückliche Fügung das Studium in New York. Ein erster, einschneidender Ortswechsel. Nun könnte alles besser werden. Doch die Vergangenheit lässt den Autor nicht los. Er entwickelt eine Essstörung und eine Kokain-Gewohnheit. „Wie weit müssen wir gehen, bis unser Körper vergisst, woher wir gekommen sind?“
Ankommen, indem wir uns selbst annehmen: Auf diese Spur schickt der Autor seine Leser immer wieder. Und das ist auch die Spur, der er selbst bei der Bearbeitung dieses Themas am Deutlichsten folgt. „Ein Zuhause zu finden ist letztlich vor allem eine Frage der Selbsterkenntnis, es ist etwas, das darauf beruht, sich die eigene Lebenserzählung und ihre sich verändernden Kontexte stets von neuem bewusst zu machen.“ Die Stärke dieses Buches liegt in der persönlichen Annäherung des Autors an ein aktuelles Thema. Nie wird Schreiber dabei ausladend theoretisch oder handelt einen Begriff wie zum Beispiel den der Heimat seitenlang ab. Immer wieder setzt er das Wort „ich“ und lässt den Menschen sichtbar werden, der um Stabilität und Souveränität gerungen hat. Mit all den Brüchen und Umzügen hat der Autor seine innere Geographie ausgeweitet und weitete somit auch die Möglichkeiten seiner Sprache. Existenz bedeutet, Grenzen zu überschreiten. Intellektuell, dabei stets bodenständig und sprachlich feinfühlig nähert sich Daniel Schreiber einer seiner - und unserer - lebenslangen Sehnsüchte: der nach Zugehörigkeit.
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