Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Berliner Aufguss

Hamburg

In Berlin können einem zwölf Jahre mitunter wie eine Zeitreise in ein anderes Jahrhundert erscheinen – diesen Eindruck vermittelt zumindest David Wagners neuer Essayband „Mauer Park“. Das heißt, ganz so neu ist der Band eigentlich nicht: Vielmehr handelt es sich um eine erweiterte Neuauflage des 2001 in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung veröffentlichten „In Berlin“ und zugleich um eine Fortsetzung von „Welche Farbe hat Berlin“ (2011 im Verbrecher Verlag). Zwischen 1998 und 2001 suchte der Autor diverse schon damals nostalgieträchtige Orte in  Berlin auf. Nun unternimmt er dieselben Spaziergänge noch einmal, teils allein, teils mit seiner Tochter an der Hand – die neben der veränderten oder verschwundenen Architektur den besten Beweis dafür darstellt, wie viel Wandel innerhalb eines Jahrzehnts möglich ist. Innerlich wie äußerlich.

Kaum mehr vorstellbar, wie Wagner um die Jahrtausendwende in der Weltbühne, dem „leersten Lokal Berlins“, in seinen zähen Ravioli stochert und sich über den Einfallsreichtum mancher Lokale wundert. Damals musste man sich alberne Spielereien ausdenken, um Gäste anzulocken, wie beispielsweise das Urinieren auf Eiswürfel. Heute ist die Nachwende-Tristesse einer überbordenden Ansammlung von unglaublich hippen Restaurants und etwas weniger hippen Imbissen und Spätis gewichen, die Tag und Nacht von Einheimischen wie Touristenhorden frequentiert werden.

In der Friedrichstraße konstatiert Wagner gar eine Umkehrung der Verhältnisse: „Heute ist der Westen alt und Mitte neu.“ Die Trennlinie verläuft zwischen dem schmuddeligen Kreuzberg und dem auf Hochglanz polierten Mitte, wo Imbisse jetzt „Deli“ heißen und – ganz den touristischen Bedürfnissen angepasst – selbstverständlich „Coffee to go“ anbieten. „Hier baut …“, „Hier entsteht …“ So lauten die kruden Versanfänge am Straßenrand.

Dass auch Kreuzberg mittlerweile zu einem der teuersten Stadtteile gehört, erwähnt Wagner in seinem Nachtragt nicht. Megabaustellen und Bauzaunlabyrinthe jedoch findet er noch immer, mitsamt der zugehörigen Aufwertungspoesie: „Die U 5. Für mehr Mittendrin“. In einem eigenwilligen Dreh begrüßt der moderne Flaneur die Sperrung der U6, denn auf diese Weise werden seine Mitmenschen dazu gezwungen, die Strecke zwischen zwei Bahnstationen zu Fuß zurückzulegen und so den Wandel der Friedrichstraße mit eigenen Augen zu verfolgen.

Doch auch Dingen, die bleiben, schenkt Wagner seine Aufmerksamkeit. Beispielsweise dem Wagenplatz Lohmühle, der seit 1991 auf der Treptower Seite an den Görlitzer Park anschließt. Sein Tonfall schwankt zwischen schmunzelndem Kopfschütteln und latentem Neid, was ihn (vermutlich unbeabsichtigt) auf eine Wellenlänge mit den bürgerlichen Kritikern des Wagendorfs bringt. Die begaffen zwar gern von oben herab das „Stillleben der Peter-Lustig-Pusteblumen-Welt“, das „Freilichtmuseum der asterixhaften Alternativkultur“, würden letztendlich an dieser Stelle aber doch lieber zweckmäßige Mehrfamilienhäuser sehen.

Popkulturelle Bezüge dürfen natürlich nicht fehlen, um sich sowohl von den Öko-Hippies als auch vom Bildungsbürgertum abzugrenzen. So fühlt sich Wagner erstaunlich oft in die „sympathisch-verzweifelte Leere“ eines Gemäldes von Edward Hopper hineinversetzt; die idyllische Unordnung auf der Lohmühle hingegen erinnert ihn an Gegenstandscollagen von Neo Rauch, Daniel Spoerri oder Jean Tinguely.

„Da warn wa noch jung“ – dieser Seufzer durchzieht so ziemlich alle Texte. Im legendären Café M verströmt nur noch die unter dem Tresen versteckte blaue Leuchtstoffröhre den kühlen Charme der 80er, das Kino International feiert seinen fünfzigsten, und auch der „Baggerladen“ namens Kumpelnest hat schon ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel. Damals standen hier die Mitglieder des Künstlerkollektivs „Die Tödliche Doris“ hinter der Bar,  Heiner Müller und Max Goldt davor; rundum war Niemandsland. Man denke an Curt Bois in „Himmel über Berlin“, der einsam über das Brachland vor der Mauer marschiert.

Heute ist der Potsdamer Platz kaum zu übersehen angesichts der dort in kürzester Zeit hochgezogenen „Beeindruckungsarchitektur“, die jedoch – so behauptet der Autor – nur noch Kinder zu beeindrucken vermag, die jünger sind als der neugeschaffene Platz selbst. Wie eben das Töchterchen an seiner Hand, das ihn ungeduldig ins nächste Shopping Center zerrt.

Bleibt die Frage, warum man diesen Neuaufguss eines bereits 2001 erschienen Buches braucht. Aus Verlagssicht sicherlich allein schon deshalb, weil Wagner durch seine Auszeichnung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 einen Bekanntheitsschub erfahren hat, der einige Abverkäufe garantieren dürfte. Aber abgesehen davon?

Die Originaltexte sind höchst subjektiv, was wiederum auch ihren Reiz ausmacht, teils lustig, teils informativ, und für Berliner-Bewohner und Berlin-Liebhaber mit Sicherheit spannend zu lesen. Literarisch bleiben sie jedoch auf Kolumnenniveau und sind nach dem Weglegen schnell wieder vergessen. Die Nachträge fallen recht unterschiedlich aus – zu einigen Kapiteln, hat man das Gefühl, weiß der Autor wirklich Neues zu berichten, bei anderen wirken die Ergänzungen eher lustlos angeklatscht.

Komplett neu ist einzig der letzte Text, eine verklärte Hommage an den Mauerpark und daran, „wie hier Berlin gespielt wird, und es macht nichts, dass die meisten, die hier Berlin spielen, vielleicht gar nicht in Berlin wohnen“. Im Mauerpark gefällt dem Autor anscheinend alles: die marodierenden sonntäglichen Horden, der niedergetrampelte Rasen, sogar die an übrig gebliebenem Grillgut flugunfähig gefressenen Krähen.

Was hängenbleibt, ist die leicht verbitterte Nostalgie, die insbesondere die aktuellen Nachträge färbt. Zwar inszeniert sich der Autor als ziemlich hipper, meist selbstironischer und definitiv immer unkonventioneller Beobachter des Geschehens, doch der Spießer in ihm lässt sich dann doch nicht ganz verbergen. Über allem schwebt ein fatalistisches Schulterzucken: So ändern sich die Dinge. Jetzt hängt man halt nicht mehr gemütlich in der Flittchenbar oder im Kumpelnest ab, sondern muss sich von der Tochter durchs Sony Center schleifen lassen. Wer sich früher noch frei und rebellisch fühlen durfte, gehört zwölf Jahre später zum Establishment. Vielleicht macht nicht so sehr der Wandel der Stadt, sondern vielmehr diese Erkenntnis die melancholische Grundstimmung des Buches aus.

 

David Wagner
Mauer Park
Verbrecher Verlag
2013 · 240 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
9783943167412

Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge