Eine Übung in Sachen Balance
Kriminalromane eignen sich hervorragend dazu, über gesellschaftliche und persönliche Verhältnisse lautstark nachzudenken und sich dabei außerordentlich gut zu unterhalten. Da geht es um Begehren, Männer und Frauen, um Väter und Söhne und um ihre Töchter, es geht um Gier, um Geld, um Macht, um Angst, Gewalt und nicht zuletzt darum, dass die Gewalt nie endet, bis sie ausbalanciert ist. Auch Recht und Gerechtigkeit sind ständige Themen in Kriminalromanen, Erkenntnis, Wahrheit und Moral kommen hinzu. Alles, was so ein ordentliches Leben und eine hinreichend hinreißende Welt mit sich führt, ist eben auch in Kriminalromanen zu finden.
Dass das so ist, ist nicht weiter verwunderlich, denn der Verstoß gegen die Ordnung ist genau der Punkt, an dem erkennbar wird, was das eigentlich ist. Und so häufen sich die Romane, die eben nicht nur von Verbrechen und Verbrechern erzählen, sondern auch davon, was es ist, das die Welt vorantreibt, und die Leute darin genauso. Was eben auch heißt: Nicht die Ordnung ist wahre Schönheit, sondern das, was sie zu zerstören droht, um am Ende doch wieder, wenn auch seine eigene Balance zu erreichen.
Womit wir beim Thema wären: Balance.
Die Gewalt und deren Ausbalancierung ist ein zentrales gesellschaftliches Thema. Gerechtigkeit ist dafür unsere zentrale Kategorie, deren ältere Fassung aber zeigt, wohin die Reise geht, wenn von Gerechtigkeit die Rede ist, nämlich in Richtung Vergeltung, ja Rache. Das rührt auch an jene Taten, die noch fern der Gewalt sind und nur als Regelverstöße auftreten. Auch sie müssen ausgeglichen werden und stehen nie für sich allein – ein System, das sich nahtlos an die Überlegungen von Marcel Mauss zur Ökonomie des symbolischen Tausches anschließt. Wer gibt, dem wird gegeben. Die Gabe erfordert immer die Gegengabe, damit der eine dem anderen nichts schuldig ist. Gewalt hingegen erzeugt beim Ausübenden den Zwang, Ersatz zu leisten (und beim Opfer oder seinen Angehörigen die Vergeltung).
Schuld ist kein moralischer oder rechtlicher Begriff, sondern ein sozialer: Sie muss immer getilgt werden, ansonsten ist die Welt selbst und ihre Ordnung gefährdet.
So lautet ungefähr die Botschaft, die der Vater Coughlin dem missratenen Sohn Joe mit auf den Weg geht. Joe, Sohn des stellvertretenden Polizeichefs von Boston, wählt nicht die angestammte Polizistenlaufbahn, sondern die des Gesetzlosen, der sich selbst seine Regeln gibt.
Das ist ein wenig klischeehaft, wie selbst die ständige Frage, ob Joe noch Gesetzloser oder schon Gangster ist, ein wenig dräut. Auch scheint die Geschichte des Joseph Coughlin, genannt Joe, der in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu einer großen Nummer im organisierten Verbrechen aufsteigt, und das auch noch überlebt, anfangs ein wenig abgedroschen. „In der Nacht“ ist nicht die erste Mafia-Geschichte, die im Krimi erzählt wird, und sie wird nicht die letzte sein.
Die Kunst, die Lehane freilich versteht, ist aus dieser alten und oft erzählten Geschichte neue Funken zu schlagen. Denn dieser Joe Coughlin ist nicht einfach nur ein Draufgänger – das ist er auch und anfangs ganz besonders. Er ist auch ein Getriebener und ein leidenschaftlicher Mann.
Lehanes überbordendes, sich immer wieder selbst neu erfindendes Erzählen weiß diese Geschichte immer weiter voranzutreiben, mit einer erzählerischen Ökonomie, die bei manch anderem für deutlich mehr Geschichten gereicht hätte. Hier aber wird aus dem Übermaß eine übermächtige Erzählung. Lehane jedenfalls legt das Zepter des souveränen Erzählers – scheint’s – nie aus der Hand.
Darin ähnelt er seinem Helden, dessen Entscheidung für die kriminelle Laufbahn einem zutiefst romantischem Motiv entspringt, dem Wunsch nach einem besonderen Leben, das sich mit Halbheiten und Gewohnheiten des Durchschnittslebens nicht zufrieden geben will. Deshalb beginnt er Zeitungsbuden abzufackeln und überfällt Banken oder Pokerrunden. Ein nietzscheanisches Leben, das stets am Abgrund balanciert.
Sein Vater lässt ihn als angeblichen Polizistenmörder fast totschlagen, seine Füße werden gelegentlich in Beton eingegossen, Messer oder Kartoffelschäler werden in seinen Leib gerammt. Joes Leben ist immer in Gefahr, und er ist selbst bereit, es anderen so heimzuzahlen, wie sie es ihm gegönnt haben.
Dass sich das alles irgendwann ausgleichen wird, will er nicht wissen. Aber er zahlt. Seine erste große Leidenschaft hält er lange Jahre für tot. Seine zweite, eine revolutionäre Kubanerin, ist die Zeche dafür, dass Joe jenes eine Mal übertrieben hat, zu viel gezeigt und zu tief verletzt hat. Sie ist nicht das Opfer eines rivalisierenden Mafia-Clans, sondern eines Vaters, dessen Tochter zu tief gefallen ist.
Wo es um Leidenschaft geht, um Begehren, und darum, ein richtiges Leben zu führen, wird eben auch mit der großen Münze gezahlt. Hier agieren bedeutende Leute und sie konkurrieren um große Güter. Der Alkohol – das Ganze ist natürlich auch eine Prohibitionsgeschichte – ist dafür nur eine Oberfläche, ein Trägerstoff für eine Geschichte, die aufs Ganze soll und geht.
Es wundert dabei eben auch nicht, dass aus dem unfertigen, getriebenen zwanzigjährigen Jüngling, der gegen seinen Vater rebelliert, eben nicht nur eine regionale Mafia-Größe wird, die auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs beseitigt werden soll.
Unter der Hand wird aus dem Kampagnenfürst, der Joe bei seiner Ankunft im Südwesten der USA eben noch ist, ein Herrscher, der mit aller Umsicht und Gewalt über sein Reich zu gebieten versteht. Die große Aufgabe ist es nicht, das Reich zu erobern, sondern seine Herrschaft zu verstetigen, wie der Roman weiß. Und Joe Coughlin gelingt dies, eben auch weil er zu rechten Zeit nicht der Gier, sondern der Klugheit folgt. Er gibt zurück, was man ihn hat holen lassen, und erhält sich selbst dafür zurück. Zumindest scheint das so zu sein.
Der Schluss – der Vorschluss muss man sagen – ist dann schon fast ein Idyll im vorrevolutionären Kuba, eine kleine Seitengeschichte vom gerechten Herrscher, der die Seinen ernährt – bevor er dann am Ende doch zahlen muss. Es sind nicht die Toten, die den Preis zahlen, sondern die Überlebenden.
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