Was der Tod nicht anrührt
Wenn er in die Vergangenheit zurückgehen könnte, sagt Theo Decker ganz kurz vor Schluss, auf Seite 1013, wenn er diesem kleinen, tapferen, traurigen, angeketteten Wesen begegnen könnte, er würde die Kette »binnen eines Lidschlags durchknipsen«.
Der Vogel wäre fortgeflogen. Und dann würde es das alles nicht geben. Das Bild »Het puttertje«, 1654 gemalt von dem Rembrandt-Schüler Carel Fabritius im Jahr seines frühen, gewaltsamen Todes bei einer Explosion, wäre nicht entstanden. Und Donna Tartt hätte ihren Roman »Der Distelfink« nicht (oder nicht so) geschrieben.
Theo ist 13, als er mit seiner Mutter – der Vater, ein Glücksspieler und Trinker, ist verschwunden – in New York ins Museum geht und eine Ausstellung alter niederländischer Meister anschaut. Die Mutter zeigt ihm das kleine »Distelfink«-Bild, dann läuft sie noch mal zurück, um einen Rembrandt genauer zu studieren. Kurz darauf geht die Welt unter. Terroristen haben eine Bombe gezündet. Theo findet sich in einem zerstörten Raum mit einem sterbenden alten Mann wieder, der ihm sagt, er solle das Fabritius-Gemälde mitnehmen, solle es retten. Das tut Theo, er steckt es in eine Tasche, er kommt aus dem Chaos raus. Aber die Welt ist tatsächlich untergegangen. Die Mutter ist tot.
Die Geschichte, die dann beginnt, erstreckt sich über 14 Jahre. Theo kommt bei der reichen Familie eines Freundes unter, er wird vom wieder aufgetauchten Vater und seiner neuen Freundin aufgespürt und nach Las Vegas mitgenommen. Er freundet sich mit dem ukrainischen Jungen Boris an, Halbwaise wie Theo, aber wilder, regelloser und ohne Angst, und die beiden ergehen sich in Alkohol- und Drogenexzessen, bis der Vater, überschuldet und sternhagelvoll, seinen Wagen auf die Highway-Gegenfahrbahn steuert. Theo geht zurück nach New York, kommt bei dem Geschäftsfreund des im Museum gestorbenen alten Mannes unter, wird erwachsen und ein Betrüger und bleibt süchtig und verliebt in die nicht erreichbare Pippa, die er seinerzeit im Museum mit dem Alten zum ersten Mal gesehen hatte. Und in der ganzen Zeit überlegt er zwar gelegentlich, das Bild zurückzugeben. Aber er kann sich nicht entschließen. Warum? Es gibt ihm da Gefühl, »weniger sterblich, weniger gewöhnlich zu sein«. Es verbindet ihn mit der toten Mutter. Und dann taucht Boris in New York auf. Und die Dinge überschlagen sich.
1022 Seiten, ein Dostojewski-Format – das muss man erst mal schaffen. Donna Tartt schafft es. Die 1963 geborene amerikanische Autorin hat mit »Der Distelfink« erst ihren dritten Roman seit 1992 vorgelegt, und sie hat daran ebenso lange geschrieben, wie die Zeit dauert, die im Buch vergeht, 14 Jahre. Es ist ein Entwicklungs- und ein Bildungsroman und ein Krimi. Doch, er hat Längen. Einige von den Tablettenepisoden in Las Vegas hätte man weglassen können, und das, was am Showdown-Schauplatz Amsterdam am Ende stattfindet, wäre auch etwas zu straffen gewesen. Aber dabei geht es um 50 oder 70 Seiten. Die fallen nicht so ins Gewicht.
Donna Tartt erzählt in einem lakonischen, sachlichen Tonfall, mit großer Genauigkeit (man möchte gar nicht wissen, was sie alles studiert haben muss an Fachliteratur etwa über Möbelrestaurierung), aber ebensolcher Leichtigkeit. Und mit Humor. Die Übersetzung von Rainer Schmidt und Kristian Lutze folgt diesem Schreibstil präzise und flüssig, nur manchmal schleichen sich Ärgerlichkeiten ein wie »Die Wörter verdörrten in meinem Mund« (statt: verdorrten) oder »psychodelisch« (statt: psychedelisch). Anfangs wirkt es ein wenig befremdlich, dass Theo zwar ab und zu seinen Verlustgedanken und Ängsten nachhängt, sonst aber einen halbwegs normalen Alltag erlebt. Doch das zeigt eher Tartts Meisterschaft: Traumata wirken sehr lange sehr versteckt in der Seele und äußern sich dann im Charakter. Und in jedem Charakter: »Wir alle werden alle verlieren, die wir lieben«, hat die Autorin in einem Interview gesagt. Es sei unumgänglich für Menschen, traumatisiert zu werden.
Deswegen gibt es auch kein klassisches amerikanisches Happy End. Sondern eine Erkenntnis: Dass es, »inmitten unseres Sterbens, ein Privileg [ist], das zu lieben, was der Tod nicht anrührt«.
Ein dickes und gutes und leises und großes Buch.
Fixpoetry 2014
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