Unbeirrt modern
Es ist eine schöne Sitte, einem Lyriker nach etlichen Publikationsjahren zum runden Geburtstag eine Sammlung auszurichten. Doris Runge veröffentlicht seit 1981 und ist seit 1985 bei der DVA beheimatet. Nun hat Heinrich Detering, der ihre Arbeit seit Jahren wohlwollend begleitet, eine Auswahl von 154 Gedichten aus 10 bisherigen Lyrikbänden zusammengestellt und 16 neue Gedichte sowie ein ausführliches Nachwort beigegeben. In dem soliden, in dezenter Farbigkeit gestalteten Band sind die Texte in klarer, relativ großer Schrift chronologisch nach ihrer jeweiligen Herkunft angeordnet. Das ergibt einen guten Gesamtblick auf Runges Werk, zumal nicht mehr alle Bände beim Verlag greifbar sind.
Wie mag sich die Autorin mit dieser Ausgabe fühlen? Man wünscht ihr, dass sie nicht etwa einen Doppelstrich ziehen möge in der Meinung, es käme nichts mehr, sondern dass sie nach zufriedenem Rückblick ein neues Aufbruchssignal darin sieht.
Ist es, wie man so sagt, still geworden um Doris Runge? Sie ist gar nicht der Typ, der Furore macht; bereits 1997 bescheinigte ihr Jochen Hieber in seiner Laudatio zum Bad Homburger Hölderlin-Preis, sie lebe am liebsten in randständiger Ländlichkeit am Rande des Literaturbetriebs. Immerhin habe ich aus meiner altmodischen Sammlung von Zeitungsartikeln (die zu entsorgen ich mich noch nicht entschließen konnte) nicht weniger als 6 Rezensionen gefunden, dazu 4 Einzelinterprationen in der Reihe „Frankfurter Anthologie“, an der sie auch selbst mit konzentrierten und informativen Deutungen mitgewirkt hat. Mit der Liliencron-Dozentur der Universität Kiel, der Poetik-Professur der Universität Bamberg und der Mitgliedschaft in der Mainzer Akademie der Wissenschaften hat sie also insgesamt ihren festen Platz in der literarischen Welt.
Bei einem Rückblick über 32 Jahre liegt es nahe, nach Entwicklungen zu suchen. Wenn es welche gegeben hat, so liegen sie eher in Nuancen. Denn im dichterischen Verfahren ist die Autorin sich erstaunlich treu geblieben. Es sind die Modi einer gemäßigten klassischen Moderne: Verzicht auf Metrum und Interpunktion, Kleinschreibung, kurzgebrochene Zeilen, lose Reihung und Verschränkung von Satzelementen, Reduktion auf größtmögliche Knappheit – kurz: eine entschieden anti-rhetorische Sprachfügung. Dichtung will Anti-Rhetorik, Anti-Gerede, Anti-Normalität sein.
Die Frage ist, ob sie sich nicht doch untergründig auf unsere inneren Verständnis-Strukturen bezieht, die wir dann beim Lesen auch unwillkürlich anwenden.
bernsteinkette
die eingefangene
rollende zeit
das vergangene
blut blatt blühen
leuchtet
tiefe
stille
legt sich
um meinen hals
ein schöner
würgeengel
sagt mir
wie jung
wie vergänglich
ich bin
Bei Gedichten wie diesem ist man versucht, die knappen Zeilen probeweise zu verschieben, weil sie wie polierte Bauklötze unverbunden scheinen, ohne Mörtel oder Lego-Noppen. Die Zeilen 6-9 und 10-15 könnten dann als zwei Sätze normaler Rede vorbeirauschen. Hier scheint der Zeilenbruch als Lese-Anweisung zu fungieren, künstliche Staustufen drosseln das Tempo. Ein kleines Beispiel nachträglicher Zurechtrückung ist der Titel des Bandes:„zwischen tür und engel“, der übrigens dem Herausgeber schon einmal als Überschrift seiner Rezension des letzten Runge-Bandes gedient hat. Eine schöne Findung, dieser kleine Dreh an einer Redewendung, der die Erwartung abknicken lässt. Im Gedicht ist sie allerdings eingeschachtelt und erscheint gerade nicht auf einen Blick:
blind date
es muss ja nicht
gleich sein
nicht hier sein
zwischen tür und
engel abflug
und ankunft
in zugigen höfen
es könnte
im sommer sein
wenn man
den schatten liebt
es wird keine
liebe sein
jedenfalls keine
fürs leben
Es wäre nun unfair und auch ein Irrtum zu glauben, man könne Doris Runges Gedichte ebensogut in Prosa auflösen. Die Geheimnisse liegen woanders, in Anklängen, speziellen Bildkombinationen, mehrdeutigen Zeichen. Dazu gehört auch der Trick mit dem vorwärts und rückwärts beziehbaren Satzteil, dem Apokoinu, auf das hinzuweisen kein Rezensent versäumt. Auch Ulla Hahn hat ihn vielfach verwendet. Der relativ freie deutsche Satzbau macht ihn möglich, nur kann man damit in die Nähe des Kalauers geraten:
es wuchsen steine / zu dom und / reich / an vergänglichkeit / ist jede zuflucht
Worum geht es in den Gedichten? Der Versuch, das zu beschreiben oder nachzuerzählen hätte keinen Sinn. Doris Runge arbeitet wie alle Dichter in ihrer persönlichen Weise mit dem Material ihrer Wahrnehmungen, ihrer Lebenserfahrung und Bildung. Einige Wörter und Motive lassen gleichwohl durch ihre Wiederkehr auf eine herausgehobene Bedeutung schließen. Haut, Flügel, Federn, Blut, Fleisch, Stein, Engel, fliegen, Herz, Rosen sind wichtige Wörter. (Hier eine kleine Bemerkung am Rande: ich würde zunächst mir selbst, aber auch anderen zu großer Vorsicht bei der Verwendung von Herz und Rosen raten...)
Das Motiv von Jagd und Beute spielt eine Rolle beim Thema Liebe, und die Figur der Wasserfrau taucht direkt (einmal namentlich als Undine) oder in Anspielungen immer wieder aus den lyrischen Wasserringen auf; es gibt sogar einen kleinen Zyklus „Nixen“.
Ist wohl nebenbei die Frage gestattet, ob es sich hier um eine weiblich geprägte Lyrik handelt – oder fliegen gleich Steine? Die Frage führt über das lyrische Handwerk hinaus zu persönlichen Dingen und dort speziell zu Beziehungsangelegenheiten. Schattenhaft taucht mir der Gedanke auf, dass vielleicht die in der Nachkriegszeit aufgewachsene Frauengeneration, mir fällt da die DVA-Kollegin Ulla Hahn ein, eine überlieferte Vorstellung vom Projekt der „großen Liebe“ verinnerlicht hat, mitsamt der dazugehörigen ebenso großen Enttäuschung und Verletzung einer passiv duldenden und unverstandenen Frau. Undine – wer denkt da nicht an Ingeborg Bachmann?
Aber lassen wir dieses heikle psychologische Thema und kehren zurück zum poetischen Verfahren. Man hat der Autorin immer ihre Knappheit bescheinigt, die sich fernab aller Geschwätzigkeit aufs genau kalkulierte Notwendigste beschränkt. Aber gerade da muss es auffallen, wenn ein Gramm zu viel auf die Waage gelegt wird. Eine Frage, die ich Lyrikern schon gestellt habe, ohne eine befriedigende Antwort zu bekommen (Doris Runge hat sie möglicherweise in ihren Poetik-Vorlesungen behandelt): Wie weiß man, wann ein Gedicht zuende ist? Braucht es Mut, einen Schlusspunkt zu setzen, wenn man am liebsten noch ein bisschen nachlegen möchte? Und wo ist umgekehrt die Grenze zur Miniatur, zum Aperçu, wenn fast schon der Haiku-Umfang erreicht ist? Ich möchte zwei Favoriten anführen, die mir eine gute Balance zu halten scheinen:
mimikry
es streicht durch
rattenschwänzige gassen
hockt auf dem dach
riecht angst
buckelt zeigt
der mausäugigen
zwei gelbe monde
seit tagen
dieses
feine weiße
rieseln
knochenmehl
was treiben sie
im siebten stock
haben engel
knochen
bricht man sie
uns ist so kalt
seit tagen
In Heinrich Deterings Nachwort, das viele schöne Komplimente enthält, heißt es zum Schluss:
Doris Runges kontinuierlich gewachsenes Werk, das man schon lange nicht mehr schmal nennen kann, hat eine Sprachkunst entfaltet, deren Strenge und Schönheit ganz für sich stehen. Es ist konsequent modern, weil es aus der dunklen, der unruhigen und beunruhigenden Romantik kommt, weil es deren Bildvorrat lebendig erhält, indem es ihn entromantisiert.
Nun könnte die Autorin bei den jungen Lyrikern von heute kaum einen Blumentopf gewinnen, eben weil sie vielleicht modern, aber nicht postmodern ist. Aber was ist das genau? Und ruft nicht schon irgendwo jemand das Ende der Postmoderne aus? Doris Runge dichtet, wie ihr der lyrische Schnabel gewachsen ist, und wird vermutlich dabei bleiben, ohne sich um die IN/OUT-Listen der Szene zu kümmern. Das würde auch zu Verbiegungen führen.
Auf meinem Bücherregal steht schon seit Jahren mit stummer Mahnung ein gerahmtes Sätzchen von Friedrich Schlegel:
Affektation entspringt nicht sowohl aus dem Bestreben, neu,
als aus der Furcht, alt zu sein.
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