In der Gartenstadt der Erinnerung
Dass die Erinnerung ein unzuverlässiger Akt ist, wird man sich nicht ins Gedächtnis zu rufen brauchen. Mehr hingegen, dass sie insbesondere ein konstruktives, sinnschaffendes Verfahren ist. Sie lässt beinahe alles zu, was man will, jede Stilisierung jede Verfälschung, und sie wird immer noch aussehen wie wirklich geschehen. Das weiß man aus dem Nachlauf so unschöner historischer Phasen wie dem Nationalsozialismus, dem recht große Erinnerungslücken und nicht minder gewagte Erinnerungskonstruktionen nachfolgten. Aber selbst im Kleinen, Privaten, Persönlichen ist der konstruktive Anteil der Erinnerung ungemein groß.
Wenn ein renommierter Autor wie Durs Grünbein seine Erinnerungen an seine Dresdner Kindheit aufruft, genauer gesagt an seine Kindheit in Hellerau, und an den Anfang einen Hinweis auf die mangelnde Verlässlichkeit der Erinnerung setzt, dann geschieht das nicht ohne Grund.
Immerhin gilt Grünbein als eines der letzten Exemplare des poeta doctus, des gelehrten Dichters, der nicht nur seine Worte zu fassen versteht, sondern auch weiß, was er wann und wie tut, und das dann auch noch mit den Weihen eines ungemein großen Wissensschatzes und eines außerordentlichen Schreibvermögens zu versehen versteht.
Wenn also am Beginn dieses Erinnerungsbuches die Klage über die geringe Dienstbarkeit der Erinnerungen steht, dann wird man sich sicher sein können, dass das von Bedeutung ist. Etwa dass niemand unterstelle, der Verfasser dieser Seiten habe etwa seine Erinnerung konstruiert. Immerhin steht am Beginn dieser Seiten ein kindlicher Alptraum, und jeder weiß, dass damit nicht zu spaßen ist.
Wenn aber etwas sicher ist, dann dass diese Erinnerungen eine groß angelegte, freilich von unverständlichen Brüchen, Inkonsistenzen und Redundanzen durchzogene Konstruktion sind.
Das fängt bereits beim Titel an: „Die Jahre im Zoo“. Nun gibt es in der Tat einen Dresdner Zoo, aber den besuchen wir in diesem dreihundert Seiten langen Buch erst ganz am Schluss, um zum einen zu erfahren, dass an diesem Durs Grünbein ein vielleicht passabler Zoodirektor verloren gegangen ist, und zum anderen, dass Grünbein und andere selbst wiederum in einem doch etwas größeren Zoo eingesperrt waren, in jenem kleinen Land in Mitteleuropa, das nur gut vierzig Jahre Bestand hatte.
Ob freilich der kleine Durs bereits so gedacht hat? Bestimmt nicht. Denn dessen Kindheit ist eingebunden in die Gänge in die Stadt mit dem Großvater und in die eigenen Exkursionen, zu denen frühere Kindheiten noch ungemein viele Gelegenheiten gaben. Wenn es so etwas wie einen Ertrag gibt aus diesen Seiten, dann der, dass eine Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren ganz anders aussah als heute, weniger beobachtet und bewacht und mit deutlich mehr Freiraum. Auch wenn sich das mit den wiederholten Verweisen auf das kleine enge Land mit den geschlossenen Grenzen beißt und auch damit, dass Regelverstöße, wenn sie offensichtlich waren, deutlich härter bestraft wurden als heute.
War das nötig? Vielleicht allein deshalb, um der vorschnellen Idyllisierung der Kindheitserinnerungen entgegen zu wirken. Schöne Kindheit? Heile Kindheit? Davon kann nur einer reden, der die Abgründe von Kindheit längst vergessen hat.
Nun findet diese Dresdner Kindheit nicht irgendwo statt, sondern in Hellerau, also jenem Vorzeigeprojekt der Lebensreformbewegung, das bis in die frühen 1930er Jahre eine so enorme Anziehungskraft ausgeübt hat. Eine Gartenstadt, in der das Gegenmodell zur sich entfalteten Industriemoderne möglich sein sollte, in der mit den „Dresdner Werkstätten“ andere als die schnell gefertigten, billigen Industriemöbel gefertigt wurden. Und in der es eine ganze Reihe von lebensreformerischen Modellentwürfen gab, die eine breite internationale Wirkung hatten. Sogar die antiautoritäre Bewegung eines Alexander Neill hat hier ihren Ursprung.
Aber damit nicht genug, Franz Kafka war in Hellerau, Paul Adler lebte hier, und Jakob Hegners Verlag residierte in Hellerau. Was will man also gegen ein Erinnerungsbuch sagen, das nicht nur den persönlichen Werdegang zu fassen versucht, sondern davon ausgehend gleich den Blick auf eine Vergangenheit ausweitet, die den Einzelnen weit übersteigt? Dagegen ist nichts zu sagen, ganz im Gegenteil.
Das Hellerau der späten 1950er Jahre ist nicht mehr das Hellerau der Lebensreformbewegung, es ist nicht mehr das grundlegende utopistische Modell eines anderen Lebens und Arbeitens. Nichts mehr davon, oder wenigstens fast gar nichts.
Die Grünbeins, die nach Hellerau ziehen, tun das, weil sie hier in ein Haus können. Endlich Platz für die Familie, so wenig das auch sein mag. Dass es hier Vergangenheit gibt, die ganz andere Möglichkeiten eröffnen sollte, interessiert nicht. Die Werkstätten sind Werkstätten, die Häuser sind Häuser. Die Erinnerung an diese Vergangenheit muss erst wieder vom Autor geschaffen werden, er muss seine persönliche Biografie mit der dieses Ortes verbinden. Und dafür muss er tief schürfen.
Nicht also die Passagen, in denen er Episoden der Kindheit an verschiedene Falterarten bindet, nicht der Gang mit dem Großvater zur zum Schlachthaus, der seine literarischen Vorbilder hat, nicht der Besuch im Zoo, nicht die Fahrt in die Stadt sind deshalb für dieses Buch entscheidend, sondern jene historischen Rückverweise aus dem Hellerau der 1950er Jahre in das halbe Jahrhundert zuvor. Dabei rücken auch jene Jahre ins Visier, in denen aus einer Vorzeigesiedlung wie überall sonst eine nationalsozialistische Stadt wird. Grünbein ist es mithin nicht um eine Aufwertung seines Hellerau zu tun, sondern eher um die Kontrastierung seiner persönlichen Vergangenheit mit dem historischen Um- und Vorfeld.
Dazu dienen ihm auch die auffallend klein reproduzierten Fotografien, Pläne und Postkarten, in denen die Widersprüche von Geschichte zu verschwinden scheinen, so gleichförmig erscheinen sie. Zur Einordung dieser Bilder entwirft er sogar einen eigenen Text, in dem die „Lehre der Photographie“ darin gesehen wird, dass sie perspektivisch sei. Die private wie gesellschaftliche Historie löse sich in diesem jeweiligen Blickwinkel auf, bleibe mithin uneinholbar. Das vormals gelebte Leben bleibt also auch mit dem zusätzlichen Dokument unerreichbar – was eine sehr Grünbeinsche Variante des grundsätzlichen Verhältnisses der Erzählung zur Realität formuliert.
Worauf denn auch die Sprache Grünbeins verweist, die bereits mehrfach Anlass zur Kritik gewesen ist. Denn alles das wird in eine gehobene Sprache gefasst, die eines großen Gegenstandes angemessen wäre. In der Ästhetik vor dem Geniezeitalter war dieser Ton den wirklich wichtigen und großen Themen vorbehalten, Hier muss er unter anderem dazu herhalten, ein paar pinkelnde Jungs aus dem Vergessen wieder erstehen zu lassen – was, wohlgemerkt, eine große Kunst ist. Das kann nicht jeder, ohne zotig oder schmalzig zu werden. Grünbein kann’s.
Dabei ist er – sprachlich gesehen – im Text eigentlich nie ganz bei sich. Die generelle Ödnis autobiografischer Text wird zumeist durch die ewige Präsenz des Personalpronomens „ich“ kenntlich. Was soll dieses ewige „ich“? Muss man das alles von ihm wissen? Immerhin weiß ein Leser aber dann Bescheid, von wem da angeblich die Rede ist. Grünbein scheint sich dieser Problematik aber sehr bewusst zu sein, denn er wechselt immer wieder ins allgemeine „man“, so als ob dieser kleiner erinnerte Junge gar nicht für sich existierte, sondern nur in der Kollektivität seiner unterstellten Existenz. Wohin soll das führen?
In die Unterstellung, dass dieser Junge keine beliebige Erscheinung war, sondern in ein größeres Ganzes aufzugehen hat? Der Junge als Gattung? Damit Groß-Grünbein sagen kann, dass er kein Einzelfall, sondern eine Regel war?
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