35 Jahre Passion...
Bologna beflügelt immer. In dieser alten, schönen, quirligen Stadt findet seit Jahrzehnten die internationale Kinder- und Jugendbuchmesse statt, die schönste Buchmesse der Welt. Jedes Jahr ein inspirierendes Erlebnis. Auch für Elisabeth Raabe und Regina Vitali, die sich auf der Messe kennengelernt hatten. Und aussteigen wollten aus ihrem bisherigen Leben als Kinderbuchhändlerin und Lektorin (bei Rowohlt, Dressler und Otto Maier), um etwas Neues auszuprobieren:
Eine deutsche Buchhandlung in New York gründen? Irgendwo ein Literaturcafé eröffnen? Oder selber Bücher verlegen?
Sie entschließen sich fürs Bücherverlegen: 1982 bekamen sie die Gelegenheit, einen der renommiertesten Verlage des deutschsprachigen Raums zu kaufen, den Arche Verlag in Zürich:
Große deutsche Verlage hatten sich wegen der umfangreichen Backlist von 1300 Titeln und deren Rechte um den Verlag beworben. Auch wir.
Die beiden waren zwar vom Fach, aber mit der Leitung eines Verlags hatten sie keine Erfahrung. Dennoch: Die Erben von Peter Schifferli, der zwei Jahre zuvor gestorben war, seine beiden Söhne, verkauften an die Newcomerinnen, die das Geld für den Kauf und die ersten Investitionen aus einem Erbe und der anscheinend großzügigen Abfindung von Raabes letzter Stelle zusammenkratzen konnten. Und dann sprangen sie ins kalte Wasser: mussten Herstellung und Vertrieb für diesen alten Verlag neu erfinden, sich mit den alteingesessenen Angestellten arrangieren. Und stellten dann ihr erstes Programm dem schweizer und dem deutschen Markt vor. In Deutschland anzukommen, war allerdings extrem schwer.
Dabei war die Backlist, die Zahl und Qualität der älteren und noch lieferbaren Titel des Arche Verlags, wirklich grandios: lauter Klassiker, auch moderne. Von Thornton Wilders "Die Brücke von San Luis Rey" (1945 als erstes Buch des Verlags erschienen) über Gottfried Benn und Werner Bergengruen, Georg Heym und Georg Trakl bis zu den Giganten Ezra Pound, Gertrude Stein, e.e. cummings, William Faulkner, und dazu noch Friedrich Dürrenmatt, Adolf Muschg und Hugo Loetscher, drei der wichtigsten, lebenden Schweizer Autoren.
In einem schön gestalteten und reich bebilderten Buch erzählt Elisabeth Raabe jetzt von dieser aufregenden Zeit. In vielen kleinen Geschichten kann man nacherleben, wie mühselig und gleichzeitig spannend ihr Verlegerinnenleben war, von Beginn an: Zuerst nahmen sie das Verlegerzimmer in Besitz, indem sie vier Böcke und zwei Holzplatten von Ikea in das Nierentisch-Sitzgruppen-Flokatiteppich-Ensemble mit den alten Drehorgeln stellten, die Schifferli gesammelt hatte. Danach schauten sie sich die Außenlager an und die Rohbögen (z.B. lagen da Hans Arps "Wolkenpumpe" und Franz Kafkas "Heizer", noch ungebunden). Und dann trafen sie Friedrich Dürrenmatt, der damals schon vom Diogenes Verlag umworben wurde. Er hielt ihnen "in breitem Berndeutsch ein Kolleg über Lessings Aufsatz 'Wie die Alten den Tod gebildet'", das Buch, das er gerade las: "Über seine Zukunft in der neuen Arche sprach er nicht." Zwei Jahre später hatte Diogenes ihn abgeworben, die Arche-Damen einigten sich mit den Diogenes-Herren
so kulant wie kollegial. Die Ablösesumme half uns bei den notwendigen Investitionen.
In kurzen Kapiteln von ein, zwei, höchstens drei Seiten erzählt Raabe von diesen aufregenden Anfängen und wie sie mit der Nonne Silja Walter, der Schwester des berühmten Autoren Otto F. Walter, mit Berthe Bendel, der Freundin von Friedrich Glauser, mit der Autorenwitwe Joy Weisenborn, den Übersetzerinnen Marie-Anne Stiebel und Eva Hesse zusammenkam. Erzählt von der ersten Buchmesse in Frankfurt und ihren ersten Vertretern. Berichtet, wie Stiebel sie für Gertrude Stein begeisterte und Hesse für Ezra Pound, die sie übersetzten.
Eher anekdotisch als analytisch oder lebendig bildhaft erzählt sie von der weiteren Geschichte des Verlags, vom Pound-Jahr 1985, in dem sie die berühmten Usura-Cantos verlegten und ein Pound-Lesebuch, dazu kamen Erinnerungen der Dichterin Hilda Doolittle an ihren Verlobten Pound:
Die Bilanz des Pound-Jahres war demotivierend. Es war nicht gelungen, jene erhoffte neue Neugier auf die Leistung eines der größten Dichter des 20. Jahrhunderts beim Leser, im Buchhandel und in den Medien zu wecken. Die erhoffte Pound-Renaissance blieb aus. Es gab keine Stiftung, keine Institution, die unsere Pound-Publikationen finanziell unterstützte.
Auf zwei Seiten berichtet Raabe vom Dada-Katalog, den Arche in der Geburtsstadt des Dada, in Zürich, für das Kunsthaus machte. Sie streift den Sanssouci-Verlag, Hanns-Dieter Hüsch, die Erfindung des Literaturkalenders, wohl das großartigste unter den vielen großartigen Produkten des Verlags. Ebenso kurz und anekdotisch handelt sie Blandine Ebinger ab, Fabrizia Raimondino, die expressionistische Buchreihe, ihren Bruder Paul Raabe, Henriette Hardenberg, Hans Sahl, den Kauf des Luchterhand Verlags. Wie sie Gräfin Schönfeldt kennenlernte, Peter Stamm, Viola Roggenkamp, und wie sie Süskinds "Kontrabass" abgelehnt hat ...
Natürlich, 35 Jahre nachzuerzählen ist eine schwierige Sache, vor allem, weil wirklich ständig etwas Neues passierte: Sie neue Autoren entdeckten, mit ihnen zusammenarbeiteten, wunderbare Buchprojekte verwirklichten. Wo vieles auch nicht klappte, und sie immer wieder neu anfangen mussten, sich aufraffen, sich begeistern lassen. Weitermachen:
Noch war der Begriff des Burnout nicht in aller Munde, aber dass ich manches Mal meine Lust, meinen Elan zu verliere drohte, blieb nicht aus
schreibt Elisabeth Raabe einmal.
Aber leider ist ihre Passion für Autoren, Bücher und Literatur über 35 Jahre in ihrem Buch nur selten spürbar, etwa bei ihrem Treffen mit Fabrizia Raimondino, wo sie sehr bildhaft die "Vorhölle" des Silvesterabends in Neapel beschreibt. Nach einer Weile aber bekommt man immer mehr das Gefühl, das Buch bestehe vor allem aus name-dropping mit ein paar begleitenden Sätzen zur Erklärung. Selbst die doch sicher spannenden Begegnungen mit dem Grandseigneur Stéphane Hessel, mit dem Dandy Fritz Raddatz oder mit dem schwierigen Maarten ’t Hart werden leider nur sehr kursorisch beschrieben. Den Fall der Mauer kommentiert Raabe v.a. mit
Umsatzstarke Wochen und Monate,
den Streit um Christa Wolf danach mit dem Einbrechen des Umsatzes. Immer wieder erwähnt Raabe auch Details, die wahrscheinlich niemanden interessieren, wie, dass man Hans Altenhein, dem Luchterhand-Verlagsleiter, bei der Übernahme kündigen musste,
wobei wir vertragsgemäß dessen Altersversorgung übernahmen.
Andererseits wird z.B. nicht klar, warum die Erben sich dazu entschlossen, den beiden Damen ihren Verlag zu verkaufen und nicht einem großen Verlag. Oder warum die beiden den Zuschlag für Luchterhand bekamen.
Entstanden ist das Buch, indem Raabe die Verlagsvorschauen durchblätterte, das Gästebuch las und sich von ihnen anregen ließ. Am Schluss sagt sie, dass
Geschichten durch das Erzähltwerden eine neue, intensivere Wirklichkeit erfahren
und sie dankt Regina Vitali, dass sie sie
auf meiner emotionalen Gratwanderung
begleitet hat. Beides ist in diesem Buch nur ansatzweise zu erkennen: Die Geschichten sind leider viel zu knapp, als dass sie intensiv wirken könnten, schon gar für jüngere Leser, die diese Zeit nicht bewusst miterlebt haben. Zu viele Fakten referiert sie, ohne sie mit Leben zu füllen. Und auch die Emotionen kommen nur ganz, ganz selten zum Vorschein. Und das ist sehr schade. So ist es vor allem für die älteren Buchhändler, Verleger, Journalisten, die in den 80-er Jahren schon tätig waren, eine schöne Zeitreise, voller angestoßener, eigener Erinnerungen an die ersten Vorschauen aus diesem alten, neuen Verlag, an Lesungen, an die Sammlung Luchterhand, an Schaufenster, in die man Pounds Bücher dekorierte, die man dann doch remittieren musste, an die Entdeckung von Margret Forster oder Peter Stamm. Oder oder oder ....
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