Jeden Tag als ein Geschenk bestaunen
Gleich vorweg sei angemerkt, dass es sich bei diesen Erinnerungen um ein ungewöhnlich dichtes, sensibles und zugleich nachdenkliches Buch handelt. Während ihrer Tätigkeit als Professorin in Oregon/USA hörte Elke Liebs erstmals von einem Kollegen begeistert über den international renommierten Literaturwissenschaftler Efim Etkind sprechen: „Dieser Mann ist ein Denkmal!“.
1974 war Etkind unter Aufsehen erregenden Umständen aus der Sowjetunion ausgebürgert worden und unterrichtete fortan an der Pariser Universität. In seiner russischen Heimat hatte Etkind rund zwanzig Jahre als Professor in Leningrad gewirkt. Den Behörden war er spätestens seit seinem tapferen Einsatz für den jungen Lyriker Joseph Brodsky, dem späteren Nobelpreisträger für Literatur, in dessen Strafprozeß ein Dorn im Auge.
Liebs wusste bis zu ihrer Bekanntschaft mit Etkind wenig über Russland, doch das sollte sich ändern. Sehr bald entdeckten beide neben gemeinsamen Interessen auch Dankbarkeit über das ewig rätselhafte Geschenk der Liebe. Rund zehn Jahre war Elke Liebs mit Etkind, der am 22. November 1999 im Alter von 81 Jahren verstorben ist, verheiratet. Das Leben mit und von der Literatur hatte beider Existenz bestimmt und auch das Ineinandergehen von Arbeit und Leben war ihnen vertraut. Die geradezu sinnliche Lust am Schaffen, eine schier unbändige Neugier an Neuem und Unbekannten standen für eine gemeinsame produktive Arbeits- und Lebensgemeinschaft ein. Traumhaft die Abende nach getaner Arbeit in Etkinds Datscha in der Bretagne: „Dann kann man Wein trinken und Wodka, kann ins Unreine reden und von Russland erzählen und Fragen über Fragen stellen und langsam schält sich aus tausend Häuten eine erste Kontur dieses gelebten Lebens heraus, das 23 Jahre früher als meines begann und nicht müde wird, jeden Tag als neues Geschenk zu bestaunen. Nur die Fledermäuse hören uns zu“.
Gemeinsam unternahm das Paar Reisen oder begleiteten einander zu eigenen akademischen Vorträgen und Seminaren. So fand 1993 in Moskau eine internationale Konferenz zum Thema „Staatssicherheitsdienste und Literatur“ statt, auf der Etkind von seinen einschlägigen Erfahrungen berichten konnte. In äußerster Schärfe ging er mit einer sich mühsam dahinschleppenden Vergangenheitsbewältigung über den Stalinismus und die unseligen Straflager ins Gericht: „Oh weh, russische Menschen kaufen bis jetzt Papirossy, die den Namen `Belomorkanal´[Weißmeerkanal] tragen: sie haben sich daran gewöhnt. Man stelle sich vor, wie ungehalten wir wären, wenn die Deutschen Zigaretten einer Marke `Dachau´ oder `Treblinka´ produzieren würden! Aber wir, wir haben uns an alles gewöhnt“. Etkinds Beitrag wurde in der von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Sammlung „Stasi, KGB und Literatur“ abgedruckt.
Russland hat Etkind nie losgelassen. Sein wissenschaftliches Werk hat sich sein Leben lang der russischen Literatur gewidmet. Sobald es ihm wieder möglich war, besuchte er zusammen mit Elke Liebs seine Heimatstadt St. Petersburg. Sie lernte auch berühmte Freunde Etkinds kennen, wie etwa den russischen Schriftsteller Daniil Granin, den Musiker Gidon Kremer oder den Germanisten Lew Kopelew. Auch das Schriftstellerehepaar Christa und Gerhard Wolf war mit Efim Etkind noch aus früheren Zeiten bekannt.
Höhen und Tiefen des gewaltsamen 20. Jahrhunderts spiegeln sich in den Lebensschicksalen vieler von Etkinds Freunden und Verwandten wider. Besonders eindrucksvoll geraten Elke Liebs Schilderungen eines Besuches im österreichischen Konzentrationslager Ebensee. Efim Etkind hatte seinerzeit als blutjunger Rotarmist an der Befreiung dieses Lagers teilgenommen. Anläßlich des fünfzigjährigen Jahrestags war Etkind zu einer Dokumentarsendung des Fernsehens eingeladen worden. In einer eingefügten Notiz, die Efim Etkinds Erinnungszyklus „Barcelonskaja Prosa“ entnommen ist, legt er seine persönlichen Eindrücke und Erinnungen dar.
Liebs packende und eindrückliche Art der Beschreibung erweist sich nicht zuletzt in der Schilderung der letzten Tage und Stunden. Etkind war ein unheilbarer Darmkrebs mit fortgeschrittener Metastasenbildung diagnostiziert worden. Daß just in diesen Tagen bei Liebs ein bösartiger Brustkrebs festgestellt wurde, konnte sie ihm verschweigen, stürzte sie allerdings an den Rand des menschenerträglichen. Daß die immer schon nicht ganz konfliktfreie Beziehung zu den Töchtern Etkinds sich nach dessen Tod bis zum Abbruch der Kontakte steigern sollten, verbitterte Elke Liebs. Anderseits belegen diese Befindlichkeiten die wahre Bandbreite eines authentischen und reifen Lebens.
Elke Liebs ist ein unprätentiöses Porträt des Gelehrten Efim Etkind gelungen. Und ganz nebenher ein eindrucksvolles Zeugnis einer mit Leben erfüllten grenzüberschreitenden kulturellen Wahrnehmung.
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