Das Leichte und die Leichtigkeit
Warum? ist eine Kinderfrage, meinte Gottfried Benn. Warum nur liest man die ‚Kinderfrage’ sogleich als Abschätzung? Kennt die deutsche Lyrik Verse wie: ‚Ein Kinderherz haben, das ist es, ein Kinderherz’? Nur in der Übersetzung von Reiner Kunze, aus dem Tschechischen. František Halas wäre ein weniger strenger Gewährsmann in dieser Frage. Ihre Ambivalenz hat auch Erich Wolfgang Skwara nicht losgelassen, die letzten Jahre. Als wir uns in Paris zu einem Gespräch über seinen Roman Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer trafen, da meinte er: „Wenn immer heute etwas passiert – ein Schiff geht unter, ein Flugzeug stürzt ab –, dann wollen wir immer die Gründe wissen: warum, warum, warum? Ich glaube aber, daß mit dem Wissen des Warum überhaupt nichts geklärt ist. Daß eine Art von Heilung in der Welt – denn darum müßte es ja gehen bei all den Dingen, die uns wehtun – so nicht erreicht wird, ganz im Gegenteil. Es macht die Sache noch kälter.“ Das ist nun acht Jahre her. Turbulente und anstrengende Jahre für den Autor, der vom Suhrkamp Verlag zu Hoffmann und Campe gewechselt ist, der seinen neuen Roman immer weiter kürzte, ihm Veröffentlichungen alter Texte vorzog, Auslesen von Tagebucheintragungen, Traumgeschichten und einer kurzen Erzählung.
Nun meldet sich Skwara wieder frisch zu Wort, mit dem Roman Im freien Fall. Und nicht nur einmal taucht das Warum auf, kehrt es zurück an die Oberfläche, fragt um Antwort. Während der vorige Roman mit einem trotzigen Aufschrei endete – ‚Menschen und Dinge haben das Recht auf ihr Zerbrechen!’, also ‚Laßt die Concorde wieder fliegen!’ –, ist Im freien Fall zurückhaltender, verharrender, auch wenn es von Beginn an heißt, die Hauptfigur Spielmann würde ‚gleich heute den Flug zur endgültigen Abreise buchen’. Das Ausharren hat Methode, ist keine Schwäche, sondern die geladene Stimmung des Romans. Den Leser erwartet nicht der große Abflug, die Implosion ist schleichend, der Boden öffnet sich im Vertrauten, das ihn verschließt, bis es selbst zerriffelt, durchsichtig wird. Spielmann (in Anlehnung an Franz Grillparzers Novelle Der arme Spielmann) – ist ein ‚Dreamer’ oder ‚creative director’ eines kalifornischen Multi-Nationals, der ‚Träume’ verkauft, so wie es zahlreiche Kulturindustrien tun. Er zehrt noch von seinen Erfolgen, doch neue strebt er kaum mehr er, seine Zeit ist vorbei, er liest schon die Nachrufseiten der Zeitung. Während er davon träumt, die Zeit zurück drehen zu können, tauchen die Rückblicke auf, thematische Episoden, die den Träumer nicht nur seiner selbst überlassen, sondern ihn scharf kontrastieren, mit amerikanischer Strafjustiz oder perfektionierter High Tech. Auch wenn Erich Wolfgang Skwara – wie Paul Nizon oder Peter Handke auch – vom ästhetischen Ideal der Selbsterkundung ausgegangen ist (man lese nur seinen Debütroman Pest in Siena), so unterscheiden diese starken Kontraste von Selbstsuche und harscher Realität doch heute sein Schreiben von ihnen. Der Lektüre kommen sie nur zugute. Denn woran sich die Geister bei seinen Büchern bisweilen scheiden mochten, war die Neigung zum Ästhetizismus. Als Kritiker vor allem niederländischer Literatur möchte ich darauf mit einem Vergleich antworten. Auf den Vorwurf des ‚Schöngeistigen’ reagierte der Romancier Jan Siebelink einmal: Man kann alles beschreiben, wenn man den richtigen Ton findet – „Und der Ton vermittelt in meinem Buch Schönheit.“ Diese Schönheit wirkt nur im Kontrast, nicht in Beschönigungen. Darin liegt der Genuß, wenn man etwa Skwaras Beschreibung und Betrachtung eines Passagierschiffes folgt, in den Bauch der Technik, der Konstruktion hinein. Und besonders stark entfaltet sich dieser Ton, wenn er etwa den gesamten Ablauf des Todes und der Nachversorgung eines Mitreisenden schildert: wie das Zimmer in einem Hotel sich zeitweilig zur Intensivstation wandelt, Ärzte um das Leben des Sterbenden ringen, die Trauer Einzug hält, Papiere und Bescheinigungen ausgefüllt werden, die Leichenbestatter den Raum betreten, beiläufig, routiniert.
Im freien Fall ist Skwaras zugänglichstes Buch. Keine Brüche der Handlung wie Erzählweise erwarten den Leser hier, wie in seinem vorigen Roman, die künstlerischen Ansprüche und Experimente seiner früheren Bücher verdichten sich zu einer durchgängigen Geschichte, deren Ende den Anfang neu beginnen läßt und die vermeintlich auswegverheißende Geradlinigkeit untergräbt. So hat er die Rahmenhandlung mit den Betrachtungen vermischt, beide leicht gefächert, was selbstverständlich klingt, doch literarisch besonders gesteigert wird, wenn etwa nacheinander drei Unfälle geschildert werden, die Spielmann stets überlebt hat, ohne daß die Spannung nachließe, der Rhythmus ins Stocken geriete. Die Leichtigkeit ist zudem nicht nur erarbeitet, sie ist humorvoll ‚erspielt’, wenn an anderer Stelle ein Haustier den erstickten Familienfrieden in Spielmanns Haus wieder spürbar werden läßt. Daß das Tier kein dramaturgischer Trick aus einer kalifornischen ‚Traumfabrik’ ist, beweist seine Vorgeschichte, in der die standardisierte Exekution von Pflegetieren auf die Schilderungen zur Todesstrafe zurückverweist. Das Gedankengebäude der Betrachtungen steht in Verhältnissen wie Lebenszeit und Geschichte, Tier und Mensch, Religion und weltlichem Gebet als Fürsprache. In seinem neuen Werk ist Erich Wolfgang Skwara auf die Art ebenso genauer Beobachter wie Ästhet, nonchalanter Erzähler wie ‚Dreamer’. So wenig er für die USA nach seinen Jahrzehnten dort noch Gutes übrig hat, Im freien Fall hätte er so in Europa allein nicht geschrieben. Oder hätte der junge, italophile Autor es einst für möglich gehalten, daß eine Figur seines Buches einmal Freckles heißen würde?
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