Cold Blood
Der Kältetyp ist das Pendant des emotionalen Ego-Troopers im 20. Jahrhundert. Mit reduziertem emotionalen Aufwand, stets distanziert und immer darauf aus, Aufwand und Effekt miteinander in Balance zu bringen. Auch wenn die 1960er und 1970er eine Re-Psychologisierung mit sich brachten, der Kältehabitus hat sich als Linie bis heute durchgezogen, vor allem in den Unterhaltungsmedien.
Das ist nicht weiter verwunderlich, ist er doch – folgt man einer Überlegung von Helmut Lethen – die einzige adäquate soziale Handlungsform, die in der Moderne erfolgreich zu sein scheint: Zurücknahme des Subjektiven, um das Subjekt zu schützen, Berücksichtigung des sozialen Umfelds, um nicht von ihm überwältigt zu werden.
Für die Literatur hat dieses Konzept weit reichende Folgen gehabt. Aus der Hochliteratur ist dieser kontrollierte Typus jedoch mittlerweile in die Unterhaltungsmedien zurückgedrängt worden, nicht zuletzt wohl deshalb, weil er mittlerweile ubiquitär geworden ist. Bei aller Klage etwa über die Rationalisierung und Ökonomisierung unserer Lebenswelt – anders ist sie uns heute kaum noch vorstellbar.
Nun hat Garry Disher in seinem kriminellen Held Wyatt eine Figur etabliert, die den Standardvorgaben des Kältetypus entspricht. Wo Jerome Charyns Protagonist Isaac Sidel vollends irrational zu agieren scheint und damit bis zum Vizepräsidenten der USA aufsteigt, ist Dishers Wyatt die Rationalität und Kontrolle selbst.
Selbst die Wahl seiner Tätigkeit entbehrt nicht einer gewissen rationalen Entscheidung: Sie verspricht schnelles Geld. Leute verdienen es, er nimmt es ihnen ab. So einfach – aber eben doch so schwer.
Wie der Fall in „Dirty Old Town“ eben zeigt.
Sicher, Wyatt arbeitet allein, Wyatt sichert sich ab, Wyatt agiert immer kontrolliert, selbst wenn er tötet, dann deshalb, weil dies die rationale Lösung eines Problems ist. Wyatt hat keinen Namen, er ist eine Legende, seine Akte ist sauber, es gibt sie nicht. Wyatt ist ein Phantom – eine Brechtsche Figur, möchte man meinen. Er überlebt in der allerkleinsten Größe, indem er nicht vorhanden ist.
Allerdings, gerade das wird immer schwieriger, denn das Datennetz um die Individuen wird immer enger. Niemand zu sein oder zwischen verschiedenen Identitäten zu wechseln, ist nicht mehr so einfach.
Und Verbrechen zu begehen, die man überlebt und von denen man profitiert, auch nicht mehr. Das wiederum hat etwas mit der modernen Gesellschaft und ihrer Bauart zu tun. Hier ist alles verbunden – „Matrix“ ist gestern, die schöne neue Welt ist eine durch Daten vernetzte Welt, in der jeder Einzelne jederzeit lokalisierbar ist.
Und in der die Taten jedes Einzelnen merkwürdig wirksam sind: Das Auffallende an „Dirty Old Town“ ist, dass die eine Problemlösung das nächste Problem generiert, um nicht zu sagen, einmal losgetreten, ist die Wirkungskaskade kaum noch aufzuhalten. Jede Aktion generiert neue Aktionen, die zu neuen Problemen, zu neuen Aktionen, zu neuen Lösungen und zu neuen Problemen führen.
Das ist in komplexen Kontexten auch nicht anders zu erwarten, genauer gesagt, in Kontexten, deren Komplexitätsgrad hoch genug ist, dass keine Aktion ohne Wirkung bleibt, dabei aber nicht so hoch, dass Aktionen schlichtweg einfach verpuffen.
Dazu muss das Interaktionsgeflecht der Figuren stark genug sein, damit sie direkt aufeinander bezogen bleiben. Das aber ist hier der Fall, was für die Güte des Romans von Garry Disher spricht. Alles, was eine der Figuren tut, bezieht sich direkt auf eine andere und wird deshalb sofort beantwortet.
Das aber führt dazu, dass mit der Auflösung eines einfachen Anfangstableaus eine Kette von desaströsen Handlungen folgt, die Wyatt immer weiter aufzuheben versucht. Mit jedem eigenen Versuch aber, der notgedrungen aus einer halbwissenden Position, nämlich der des teilnehmenden Beobachters erfolgt, wird die Situation jedoch noch komplizierter. Was eben schließlich dazu führt, dass die Beteiligten nach und nach eliminiert werden müssen.
Auch das ist rational, aber eben verhängnisvoll. Denn ein jeder Mord, der hier geschieht, ist auch eine weitere Stufe auf der Eskalationsleiter. An deren Ende aber steht – wie es sich gehört – ein Showdown der beiden Hauptakteure, Wyatt eben auf der einen Seite, und ein gewisser Le Page – ein französischer Killer – auf der anderen.
Allerdings ist zu bedenken, dass Wyatt selbst ein Anachronismus ist. Mit anderen Worten, er ist noch ein Krimineller alter Schule. Er beklaut die Leute, indem er ihnen das Geld oder Schmuck oder was auch immer abnimmt. Er überwindet dabei keine elektronischen Sicherheitssysteme – normale Alarmanlage, das ist alte Zeit, die kann er –, er hackt sich nicht in Datenbanken oder Konten ein. Er begeht keine Cyberverbrechen, er bringt die Leute auch noch wirklich und leibhaftig um.
Das weiß er, und er weiß auch, dass es für ihn langsam eng wird.
Angekündigt wird das bereit im Auftakt des Romans: Wyatt will einem Hafenmeister das Geld abnehmen, das dieser von den Schiffen erpresst, die in seinem Becken anlanden. Der einfache Deal jedoch geht schief, weil die Reederei nicht zahlen will, und die Polizei in Wyatts Raub platzt. Wyatt setzt sich mit Not ab und entkommt. Seine Flucht ist eine kleine Studie in Unauffälligkeit – kann man sich merken, sollte man je in eine solche Situation kommen.
Den nächsten Coup plant er mit dem Mann, der ihm den Hafenmeister-Tipp gegeben hat. Allerdings bringt der noch seine Ex mit ein, von der der Tipp kommt, dass ein Melbourner Juwelier europäisches Raubgut vertickt. Der Juwelier soll überfallen werden. Kompliziert wird das Ganze dadurch, dass Eddie Oberin, so der Name des Informanten, falsches Spiel spielt und die Räuber beraubt. Dabei werden Wyatt und Eddies Ex angeschossen, sie überleben jedoch.
Das Diebesgut aber besteht nicht aus teuren Luxusuhren und Schmuck, wie erwartet, sondern aus Bankpapieren, die nicht eben einfach einzulösen sind. Was Eddie und seine Komplizin auf die Idee bringt, die Papiere an die Beraubten 1. Grades zurückzuverkaufen. Der Austausch eskaliert, der Juwelier und sein Bruder werden erschossen, Eddie gleichfalls und damit ist die Liste der Leichen, die in diesem Krimi produziert wird, noch nicht abgeschlossen.
Das ist alles logisch und unumgehbar, aber es ist dennoch fatal und desaströs. Ein einfaches und kleines Geschäft ist das keineswegs, der Aufwand ist extrem hoch, die Kollateralschäden sind enorm – was dann doch wieder zu der Erkenntnis zurückführt, dass ein gut gemachtes Verbrechen mehr Aufwand macht, als zum Beispiel eine gut geführte Bank zu gründen. Und das ist extrem irrational.
Fixpoetry 2014
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