Einsame Stimmen
Für ihren 2014 in der Türkei erschienenen Erzählband „Mübarek Kadinlar“ („Heilige Frauen“) erhielt die Istanbuler Schriftstellerin Gaye Boralioglu den Yunus Nadi Literaturpreis. Nun liegt die Sammlung unter dem etwas unglücklichen Titel „Die Frauen von Istanbul“ auf Deutsch vor – ihre zweite Veröffentlichung hierzulande nach dem Roman „Der hinkende Rhythmus“ (Berlin 2013). So unglücklich wie unpassend sind auch das Coverdesign und der vor Klischees triefende Klappentext, mit dem der Frankfurter Größenwahn Verlag seiner Autorin einen Bärendienst erweist.
Von all dem sollte der interessierte Leser sich nicht abschrecken lassen. Denn die dreizehn Erzählungen sind literarische Kleinode von großer erzählerischer Kraft. Auch wenn Vieles in Istanbul angesiedelt ist, sollte man kein Istanbul-Buch erwarten, wie es der Titel suggeriert. Im Zentrum stehen Protagonistinnen, wie es sie wahrscheinlich in der ganzen Türkei gibt. Gemeinsam ist ihnen allen eine kaum erträgliche Einsamkeit, aus der sie auszubrechen versuchen. Sei es eine Frau, die jede Woche dieselbe Zugstrecke gemeinsam mit ihrem schweigsamen Ehemann fährt, den sie verachtet und fürchtet: Die Landschaft hinter den Zugfenstern zieht an ihr vorbei wie ihr eigenes Leben, in dem sie als Gefangene lebt, ohne Ausweg. Sei es jene Frau, die in einer Gemeinschaftszelle im Gefängnis sitzt und sich in Gedanken in ein Märchen versetzt, das ihr Vater ihr erzählte, als sie klein war – jener Vater, der sie einmal in der Woche wortlos besucht. Sie schweigen gemeinsam. Was zu sagen war, sagt das Kind im Märchen.
Gaye Boralioglu saß im Putschjahr 1980 selbst für einige Monate in Haft, weil sie an der Uni in politischen Gruppen aktiv war. Und ihre Geschichte ist im Jahr 2016 wieder erschreckend aktuell geworden, seit das AKP-Regime seine Kritiker zu Zehntausenden in Gefängnissen verschwinden lässt. Boralioglu gibt in ihren Erzählungen auch jenen eine Stimme, die in der offiziellen Türkei keine Stimme haben dürfen. Da ist Mustafa, der sich aufopferungsvoll um seine demente Großmutter kümmert, und als diese wieder zu sprechen beginnt, glaubt er, sie brabbele nur wirres Zeug vor sich hin – er erkennt die kurdische Sprache nicht, die sie seit frühester Kindheit verschwiegen hatte. Ähnlich wie die junge Sängerin, die in einer Casting-Show auf die Bühne tritt und ihr Lied auf Armenisch vorträgt, sehr zum Entsetzen von Jury und Publikum.
Dreizehn Geschichten, dreizehn Befreiungsschläge von Frauen, die verstummt sind in einer Gesellschaft, die Abweichungen – gerade von Frauen – nicht toleriert – so wie die Reisköchin, die sich mit einem ganz eigenen Rezept aus der Enge ihres Alltags befreit. Oder wie die stumme Toilettenfrau, die immer da ist, die niemand aber wirklich wahrnimmt, und die eine neue Welt entdeckt, als sie eines Tages im Winter den Bus verpasst.
Gaye Boralioglus Erzählungen sind pointierte, fast beiläufig wirkende, aber dadurch umso eindrücklichere Blicke in die seelischen Untiefen von Menschen, die aufgrund gesellschaftlicher Konventionen keine Kontrolle über ihr eigenes Leben haben. Es ist eines jener Bücher, die einen sensiblen Eindruck der Lebensrealitäten in der heutigen Türkei liefern, und die dem Leser mehr vermitteln als das mediale Hintergrundrauschen zwischen Politik und Polarisierung.
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