Vom falschen Zauber der Bedeutsamkeit
Susan Mantle hat ein Problem. Naja, eigentlich hat sie viele Probleme, die aber letzten Endes alle in einem wurzeln und die junge Londonerin, die sich ihren Lebensunterhalt mit Stadtführungen verdient, zu einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs machen. Susan hat sich nämlich bei einer Hellseherin einen Blick in die Zukunft gegönnt. Für gutes Geld und mittels eines Kristallglases. Erfahren wollte sie lediglich, ob ihr aktueller Freund zu ihr passt oder nicht. Aber das Weiblein in ihrem abgedunkelten Büro hat gleich die ganz große Show abgezogen. Und jetzt weiß Susan, dass sie reich und berühmt werden wird, eine große Reise sowie ein fremder Mann ihr bevorstehen, dem sie mehrmals „Nein“ sagen wird, um ihm am Ende doch ein „Ja“ zu schenken und einen Tag darauf zu sterben. Eigentlich gar nicht so schlecht, sieht man einmal vom Finale ab.
Nun ist Susan zum Glück ein bisschen bodenständiger als ihre leicht überdrehte Freundin Miranda. Sie liest nämlich - und zwar nicht nur THE SUN, die englische Bildzeitung. Sogar ein paar Zeilen des walisischen Dichtergenies Dylan Thomas hat sie noch im Kopf. Und natürlich kennt sie ihren Kontostand: Nach Abhebung von 40 Pfund, um sich die raunende Beschwörung des Futurs leisten zu können, stehen ganze 32,75 Pfund auf der Habenseite. Kein Grund also zu wirklicher Besorgnis.
Allein der Zufall will es, dass die Welt gerade von einem terroristischen Anschlag bewegt wird, als Maxwells Heldin - leicht desorientiert und aus Besorgnis über ihr vorhergesagte baldiges Ende Tränen vergießend - die Straße erreicht. Dabei soll es an einem Filmset den charismatischen Mimen Thomas Bayne erwischt haben, eine Meldung, die 99 lange Minuten die Öffentlichkeit paralysiert, ehe herauskommt, dass doch nur das Double des Leinwandheroen zu den Opfern zählt. Doch just in jener neunundneunzigsten Schicksalsminute stolpert Susan Mantle in ihrer Verwirrtheit einem Reporterteam über den Weg. Und ihr fällt angesichts des eigenen Dilemmas nichts ein als der Dylan-Thomas-Vers „Death shall have no dominion” - was Glyn Maxwells Übersetzerin, Martina Tichy, die mit diesem Buch einen schweren und guten Job gemacht hat, Erich Fried folgend als „Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben“ wiedergibt. Von da an geht’s bergauf - denn alle bringen Susans Worte mit der wundersamen Wiederauferstehung des schon tot geglaubten Schauspielers in Verbindung.
Das Mädchen, das sterben sollte präsentiert sich als bitter-ironische Mediensatire, die keinen Auswuchs unserer modernen Kommunikationsgesellschaft ungegeißelt lässt. Indem die völlig unheldische Susan Mantle aufgrund ihres nur so dahingesagten und ganz anders gemeinten Satzes über Nacht zum Star wird, Zeitungen, Funk, Fernsehen und das Internet sich um sie schlagen, rechnet der Roman ab mit dem keineswegs nur in Großbritannien statthabenden Hype um eine virtuelle Realität, von der man dem Zuschauer und Leser glauben machen möchte, dass es seine Wirklichkeit ist. Bei Big Brother, DSDS, im Dschungelcamp und auf hundert anderen Schauplätzen kann jeder kurzzeitig zum Promi werden. Auch gegen den eigenen Willen, ja schlimmer noch: Wer nicht mitspielt, läuft Gefahr, im totalen Abseits zu landen. Maxwells Heldin verweigert sich dem hysterischen Zirkus, sie hat keine Lust, im Mittelpunkt einer clever inszenierten Realityshow zu stehen. Das verhindert aber nicht, dass sich das ihr prophezeite Schicksal Stück für Stück zu erfüllen beginnt und Menschen, die vormals ihre Freunde waren, nur noch begierig darauf sind, vom flüchtigen Ruhm einen Teil abzubekommen.
Am Ende scheint Susan dem von allen Seiten auf sie zurollenden Irrsinn doch noch zu entkommen. Sie kehrt zurück ins Haus ihrer Eltern, dass sie ganz allein bewohnt, seit diese ihren Alterssitz nach Südfrankreich verlegt haben. In ein paar wenigen Tagen hat sie viel gewonnen, aber noch mehr verloren. Doch das Interesse einer Öffentlichkeit, in der jeder alles tun würde, um für einen kurzen Augenblick von allen anderen beneidet zu werden, Star zu sein, konzentriert sich inzwischen längst auf neue Sensationen. Susan Mantle ist frei. Auch frei, um ihre Hilfe uns anderen anzubieten, sollten wir einmal in ihre Situation kommen. Was man dazu tun muss? Einfach bei ihr anrufen!
Glyn Maxwell, Jahrgang 1962, hat mit diesem Roman ein so intelligentes wie witziges Buch vorgelegt. Darin baut er ganz auf die vorwärtstreibende Kraft des Dialogs, der zu einem Gutteil noch über das Medium stattfindet, mit dem in unseren Tagen öffentliche Plätze, Straßen und Verkehrsmittel mit sinnfreiem Geplapper zugemüllt werden: das Handy. Immerzu lässt er es irgendwo läuten, andauernd springen Anrufbeantworter an, nerven Mailboxen, wird um Rückruf gebeten. Es klingelt mal kurz - ###### - und mal lang -###### ###### ###### ###### ###### ###### - und wenn die erlaubte Sprechzeit für eine zu übermittelnde Nachricht zu Ende ist, ertönt der charakteristische Piepton: *. Von da an spricht der Anrufer ins Leere, was den Redestrom in der Regel aber kaum zu bremsen vermag. Um die vielen verschiedenen Sprecher voneinander abzuheben, setzt Maxwell unterschiedliche Schriftauszeichnungsarten ein. Kursive, fette und gesperrten Schriftschnitte dienen dazu, Susans jeweilige Gesprächspartner zu kennzeichnen, ihre eigenen Gesprächsanteile erscheinen in normaler Schrift, Gesprächspausen - meistens nur ein kurzes Luftholen vor der nächsten Wortkaskade - hat man sich immer dann vorzustellen, wenn eine oder mehrere Leerzeilen den Text unterbrechen. Die vielen Kommas, die laut letzter Regelung der deutschen Orthographie unnötig sind, signalisieren Sprechakzente, also ein phonetisches Problem, das die Schrift ansonsten nur unvollkommen sichtbar machen kann.
Nach einer kleinen Eingewöhnungsphase, während der man sich öfter die Frage stellt, die in der modernen Literatur mit zu den wichtigsten gehört, nämlich „Wer spricht?“, hat man übrigens schnell begriffen, womit man es hier zu tun hat, versteht es zunehmend besser, die einzelnen Sprecher voneinander zu separieren und ertappt sich schließlich sogar dabei, wie man innerlich mit verschiedenen Stimmen mitliest und die Intonation korrekt nachzuvollziehen sucht. Das vermag freilich nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Einsatz allein des Dialogs - so sehr er auf der einen Seite natürlich die Stoßrichtung der Kritik des Autors formal unterstreicht - bei mehr als 450 Seiten Text gelegentlich auch die Lesespannung hemmt. Es sei deshalb vermerkt, dass ich manchmal nicht ganz unglücklich darüber war, dass Wechselgespräche, wenn man sie zu Papier bringt, kaum je die volle Zeilenlänge beanspruchen. Und vielleicht hätte es unter dem Strich so vieler Worte auch gar nicht gebraucht, um zu demonstrieren, wie wohltuend Stille und Alleinsein doch sein können.
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