Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Meilenstein moderner Lyrik

Zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung von Morgue und andere Gedichte
Hamburg

Zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung von Morgue und andere Gedichte im März 2012 hat Klett-Cotta eine Jubiläumsausgabe mit den expressionistischen Gedichten Gottfried Benns vorgelegt, deren Typographie und Format der Erstausgabe als Lyrisches Flugblatt nachempfunden ist. Diese Sammlung war Benns erster Band; mit dem Gedichtzyklus wurde er über Nacht berühmt.

Zunächst war ich etwas erschrocken, als ich das schmale Liebhaberbändchen mit seinen gerade 32 Seiten in der Hand hielt: nämlich aufgrund der Schrift auf dem Cover, einer Fraktur. Sie wirken krude, aggressiv und zugleich verschroben, diese düsteren altmodischen Lettern im Prägedruck, mit dem Hautgout einer ziemlich anderen Welt (die zum Glück vergangen ist), und versetzten mein Empfinden sogleich in die Zeit des Dritten Reichs – weiß man doch, dass auch Gottfried Benn sich wenigstens in den Anfangsjahren den Nazis so gar nicht verweigert hatte. Diese waren freilich im März 1912 zum Erscheinen dieses Büchleins noch in weiter Ferne, doch ebendiese waren es viel später auch selbst, die im Januar 1941 wegen ihrer – wie es hieß – jüdischen Herkunft die Fraktur zugunsten der Antiqua als „unerwünscht“ deklarierten, einem Erlass Bormanns folgend. Insofern schlägt einem da etwas mit Wucht entgegen: Lettern, die etwas verkörpern, gefühltermaßen die ganze „braune Vergangenheit“ – zusammen mit all dem, was in jüngerer Zeit so hässlich auferstanden ist und was man im englischsprachigen Raum einmal das Wiedererwachen der Ugly Germans nannte. Populär sind in jüngster Zeit Fraktur-Logos nicht nur im Gothic-Lifestyle als okkultes Zierrat von beispielsweise Black Metal-Alben, sondern leider auch als rückwärtsgewandte Schriftzüge der Neonazis auf ihren schwarzweißroten Fahnen.

Hat man sich vom ersten Schrecken erholt, stellt man fest, dass es sich bei diesem Jubiläumsband weniger um die feist und „breit“ wirkenden Frakturtypen der NS-Zeit handelt, wie man sie aus Büchern kennt, die zwischen 1933 und 1941 erschienen sind, sondern um eine feinere, geschwungenere, die vor allem den Zahlen ein paar höchst elegante Schnörkel beifügt: so elegant waren die Nazis zu keiner Zeit.

Und somit ist das Ganze, ohne bislang auf den Inhalt eingegangen zu sein, zusammen mit den dunklen sepiafarbenen Zeichnungen Georg Baselitz’, auf seine ganz eigene Art und Weise schön. Fast möchte man mit Rilke sagen: Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Soviel also zur „Schönheit“ dieses Bändchens: Für bibliophile Leser in jedem Fall genau das Richtige und unbedingt zu erwerben.

Auf Gottfried Benn braucht man eigentlich nicht näher eingehen. Seine Morgue kann man – und muss man – unter Literaten als bekannt voraussetzen. Der Gedichtzyklus „gilt bis heute als Meilenstein moderner Lyrik. Die Bilder aus dem Leichenschauhaus und dem Sektionssaal riefen stürmische Proteste hervor“, verkündet das Nachwort. Die Texte gehen buchstäblich unter die Haut; sie schockieren, verstören und rühren damals wie heute an Tabus. Der Gedichtband Morgue erregte 1912 selbst in den für moderne Lyrik aufgeschlossenen Kreisen großes Aufsehen, da er die herkömmliche Vorstellung von Dichtung radikal in Frage stellte. Die Provokation liegt bis heute in der Banalität, mit der menschliche Existenz und körperlicher Verfall dargestellt werden. Benns Umgang mit Sprache ist neu und übt großen Einfluss auf die expressionistische Dichtung aus. Benns Gedichte sind lakonisch, schonungslos, kaltblütig – und dennoch von seltsamer, erbarmungsloser Schönheit; ein „knappes“ Mitfühlen ist trotz aller Derbheit darin. Man meint, „ganz nah dran“ zu sein, wie sich ein junger Arzt souverän durch seine Arbeitswelt bewegt.

„Pressen Sie, Frau! Verstehn Sie, ja?
Sie sind nicht zum Vergnügen da.
Ziehn Sie die Sache nicht in die Länge.
Kommt auch Kot bei dem Gedränge!
Sie sind nicht da, um auszuruhn.
Es kommt nicht selbst. Sie müssen was tun!“

Das lyrische Ich wirkt ein wenig abgestumpft vom Klinikalltag und dabei doch auch empfindungslos, wenn es ein weiteres Mal sieht, was es jeden Tag sieht. Es muss damit fertig werden. Es macht das Beste daraus. Es geht damit so gut wie möglich um. Das Unausweichliche muss getan werden: Diese Paradoxie, vielleicht auch innere Tragik, durchzieht Benns Texte. So heißt es im Gedicht Blinddarm:

Alles steht weiß und schnittbereit.
Die Messer dampfen. Der Bauch ist gepinselt.
Unter weißen Tüchern etwas, das winselt
„Herr Geheimrat, es wäre soweit.“
Der erste Schnitt. Als schnitte man Brot.
„Klemmen her!“ Es spritzt was rot.
Tiefer. Die Muskeln: feucht, funkelnd, frisch.
Steht ein Strauß Rosen auf dem Tisch?

Wo man sich als Außenstehender vielleicht gerade anklagende, sehr feinfühlige und pietätvolle Gedichte erhoffen würde, will sagen anprangernde Texte eines Dichters gegen die Abgestumpftheit,gegen eine Verrohung im mitleidsvollen Empfinden, bleibt in Benns Texten kaum mehr als grobschlächtige, unverhohlene Härte. Die von Zynismus übrigens weit entfernt ist. Dabei ist das lyrische Ich ja keineswegs ohne Mitleid: er bedauert den Tod der kleinen Ratten, die sich am Blut der Leiche genährt hatten und näht mit Liebe eine dunkelhellila Aster unter die Haut des soeben obduzierten Bierfahrers. Und vermutlich ist man auf der richtigen Spur, wenn man weiß, dass der junge Benn, wie viele junge Intellektuelle seiner Generation, der „lebensbejahenden“ Philosophie Nietzsches zugeneigt war, die von einem verlangt, die Welt unbedingt anzunehmen, wie sie ist.

Gottfried Benn, 1886 in Mansfeld geboren, studierte ab 1905 Medizin an der Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin. Er wurde Assistent in der Pathologie der Westend-Klinik am Spandauer Damm in Berlin-Charlottenburg und eignete sich dort über einer Vielzahl von Obduktionen das Anfertigen präziser Beschreibungen medizinischer Fälle an. Ende 1913 übernimmt er die Leitung des Gynäkologischen Krankenhauses Charlottenburg, wo er auf eigenen Wunsch 1914 wieder ausscheidet. Seine Erfahrungen als Arzt fließen unmittelbar in die Gedichte des Morgue-Zyklus. Aus dem Text Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke:

Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße
Und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Und doch. Es geht in der Morgue auch um einen Blick, der aus heutiger Sicht von Rassismus nicht frei ist; auch das ist dem Zeitgeist und dem nationalistischen Denken, wie es seit dem Kolonialismus im 19. Jh. zunehmend aufflammte, geschuldet. Die Ratten, die man ertränken muss, erinnern an spätere NS-Propagandafilme zum „parasitischen“ Treiben „niederer“ Völker; der „Nigger“ im Text Negerbraut lassen als nonchalant verwendeten Ausdruck heute ebenso tief blicken; es finden sich die „typischen“ Zuschreibungen: Der bohrte zwei Zehen seines schmutzigen linken Fußes / ins Innre ihres kleinen weißen Ohrs. Hätte ich den Zyklus nicht gekannt, wäre ich beim Lesen spätestens hier das zweite Mal erschrocken. Kein Wunder, dass die Gedichte Kleine Aster und Schöne Jugend heute überall abgedruckt sind, während der Text Negerbraut von der Bildfläche ebenso fast verschwunden ist wie z. B. die ein oder andere offen antisemitische Bildergeschichte Wilhelm Buschs.

Gottfried Benns Verhältnis zum Nationalsozialismus ist vielschichtig. Hatte ihn schon der italienische Faschismus angezogen, näherte er sich recht unreflektiert dem Nationalsozialismus an. Anfangs huldigte er mit Schriften wie Der neue Staat und die Intellektuellen (1933) dem neuen Regime und verfasste als Nachfolger Heinrich Manns und kommissarischer Vorsitzender der „Sektion“ eine Loyalitätsbekundung für Hitler, die ihren Mitgliedern eine nicht NS-konforme politische Betätigung verbot. Benn verteidigte in seiner Schrift Expressionismus die Kunstbewegung gegen nationalsozialistische Angriffe. Und obwohl er 1933 er bereits Zweifel hegte, distanzierte er sich erst ab 1934 immer weiter vom Nationalsozialismus, wurde aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und ab 1937 mit einem Schreibverbot belegt. In den letzten Jahren war Benn als Militärarzt tätig, in einer – wie er sich ausdrückte – „aristokratischen Form der Emigration“.

Benns Gedichte werden kontrastiert von Zeichnungen Georg Baselitz’. Dessen „Werke entsprachen zu Beginn seiner Karriere ebenfalls nicht den gesellschaftlichen Werten und Normen. Seine pandämonischen Bilder lösten 1963 während seiner ersten Einzelausstellung in Berlin einen Skandal aus und wurden beschlagnahmt. Er war damals im selben Alter wie Gottfried Benn, als der seine Morgue-Gedichte schrieb.“, erfahren wir im Nachwort. So stellen die halbabstrakten Tuschezeichnungen von 1963, wenn man genau hinsieht, menschliche Körper oder Körperteile dar. Ein übermaltes Kreuz in dunklen Schwarz- und Brauntönen, verstümmelte Gliedmaßen, „Anamorphosen“ und Diffus-Menschliches, düster rumorend, wimmeln auf den Blättern. Das Bild, das 1963 das Establishment schockierte, ist in der Sammlung jedoch nicht enthalten: Die große Nacht im Eimer, in der Beschreibung des Kunsthistorikers Klaus GallwitzDie Gestalt, die vom Körperbau an einen Jungen erinnert, steht mit gespreizten Beinen da und hält mit der linken Hand einen überdimensionierten Phallus. Sie schaut am Betrachter vorbei.

Nach der NS-Zeit entstanden erst 1948 wieder Gedichte von Gottfried Benn. Seine Gedichtbände „Statische Gedichte“ (1948), „Trunkene Flut“ (1949), „Fragmente“ (1951), „Destillationen“(1953) und „Aprèslude“ (1955) zählen zur hermetischen Lyrik und sollen von T. S. Eliot und W. H. Auden beeinflusst sein. Benn veröffentlichte auch einige kritische Essays wie „Das moderne Ich“ (1919), „Nach dem Nihilismus“ (1932) und „Ausdruckswelt“(1949). Seine Autobiographie „Doppelleben“ erschien 1950. Er starb 1956 in Berlin.

Die recht preiswerte Broschüre wurde jüngst ausgezeichnet von der Stiftung Buchkunst als eines der 25 schönsten Bücher des Jahres. Man kann Klett-Cotta zu diesem mutigen Bändchen nur gratulieren.

Gottfried Benn
Morgue und andere Gedichte
Zeichnungen: Georg Baselitz
Klett-Cotta
2012 · 32 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
978-3-608939415

Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge