Unverfügbare Fische
Wenn das Wasser der Leitung folgt, so folgt daraus Leitungswasser (umgekehrt ginge es auch). Die deutsche Sprache liebt bekanntlich die Komposita, und deutsche Dichter lieben sie auch, denn mit ihnen lassen sich mühelos und endlos die verblüffendsten Neologismen erzeugen. Im ersten Gedicht von Gregor Däublers Debut-Band geht es noch vergleichsweise harmlos zu: ausgehend von der deutschen Fassung des vielzitierten Diktums form follows function (Louis Sullivan) entwickelt der Autor spielerisch eine Kette von Wortpaaren, die am Ende wieder in die Anfangszeile die form folgt der funktion mündet. Überschrift: funktionsform. Nun ist dieses Gedicht eigentlich nicht repräsentativ für die Tonlagen in diesem Band, aber es enthält die drei titelgebenden Begriffe, die zugleich den drei Abteilungen voranstehen: die form – der druck – das meer. Schon diese Einteilung suggeriert mit ihren bestimmten Artikeln etwas Strenges, Apodiktisches, und ihre Abstufung vom Abstrakten (Form) zum Konkreten (Meer) zeugt von durchdachter Ordnung. Auch beim ersten Blättern hat man den Eindruck, dass hier nicht vorsichtig getastet, sondern entschieden gesetzt wird. Das wirkt einschüchternd, gleichwohl sollte es nicht vom genaueren Hinsehen abhalten.
43 Gedichte versammelt der schmale hochformatige Band in klarem, ruhigem Satz auf schönem Papier. Er gehört zur ersten Dreier-Folge der neuen Reihe "LYRIKPAPYRI", die Mathias Jeschke für die Edition Voss beim Horlemann Verlag herausgibt. Gregor Däubler ist mit Jahrgang 1986 der jüngste unter den bisher erschienenen Autoren.
Wie stellt man Gedichte vor, da sie sich im Grunde weder erzählen noch beschreiben lassen? Man kann vielleicht, am Beispiel, fragen, was in ihnen geschieht.
Wird etwas erzählt? Manchmal scheint es so, aber eine Geschichte ergibt sich nicht:
Geschirrtuch
achselrot im
Nasendunst
stand ich an der Gabelung
Vögel sangen
Messer rindeten
Kiefern gruben
in meinem Löffel
suchte ich ein Bild
Wird eine Szenerie entworfen? Manchmal scheint es so, aber ins Konkrete fährt plötzlich ein erweiternder Gedanke, der dann doch nicht wirklich zutage tritt, sondern verpackt ist:
niederflur
einsatzwagen
häusermeer
während ich
daneben auf den
blättern,
stiegen und
signalen
stand
zählte man die
stangen
anker
leinen aus beton
da riss und exzerpierte ich
die wirklichkeit
den zufluchtsraum
aus kacke und gesang
Ein anderes Mal ist möglicherweise ein mentaler Zustand beschrieben, in dem die Wahrnehmung alltäglicher Dinge sich verschoben hat, so in Einkauf:
meine Tasche / eine Eierschale // Faszienschläuche / meine Schuhe // Hühnerknochen / mein Carbon (…) um dann vollends ins Absurde zu geraten: altweiß, doch taubenhaft / standen wir / im Sehnenzelt / im Bandenhaus – oder scheint das nur so? Hier ist nichts sicher, wir bewegen uns durchgehend in logischem Zwielicht und müssen unseren Reflex, einen Zusammenhang zu suchen, immer wieder zurückpfeifen. Die Ausnahme bilden einige Gedichte mit poetologischen Erörterungen, die aber, da sie als Lyrik und mit Visuellem kontaminiert auftreten, nicht eigentlich diskutieren.
Mathias Jeschke, der mutige Herausgeber, bezeichnete in einem Interviewtext Gedichte einmal als „unverfügbar – wie Fische vielleicht“. Ein hübsches Bild, aber – Fische können auch unangenehm flutschig sein, und wenn man sie aus ihrem Element (dem Lyrikband) holt, schnappen sie nach Luft...
Einige Einzelbeobachtungen:
Die Schreibung variiert zwischen konsequenter Kleinschreibung, herkömmlicher Manier und Zeilen-Versalien wie in der klassischen Lyrik. Ein Grund für diese Mischung ist im Kopf des Autors zweifellos vorhanden, aber ist sie auch für den Leser plausibel? Ähnlich verhält es sich mit Zeilenbruch und Strophen-Trennung. Folgen sie der Notwendigkeit klanglicher oder gedanklicher Akzente – oder könnten sie auch anders ausfallen? Schwer zu entscheiden, wie etwa in dem Gedicht Ludwig van. Ob der Titel eine Verbindung zu Mauricio Kagels gleichnamigem Musikstück und Film von 1969 hat und deren Collagetechnik entsprechen will? Die 3. Strophe sieht jedenfalls so aus:
Bevor ich
Euch
Erzähle von
Täfelungen aus
Holz
Oder
Vinyl
Erwähne ich die
Nebenbühne
Die Kapiteleinteilung des Bandes scheint mir ihrem eigenen Anspruch nicht ganz zu genügen. Während sich unter das meer tatsächlich fast durchweg Gedichte versammeln, in denen Wörter wie Wellen, Schiff, Möwen, Hafen, Strand, Boote vorkommen (aber das ist ja nur ein äußerliches Merkmal), unterscheiden sich die Gedichte der beiden ersten Teile mehr untereinander als vom jeweils anderen Kapitel.
Die Gedichttitel, das kapiert man bald, haben nicht die Funktion einer herkömmlichen Überschrift, sondern fügen dem Text neue Rätsel hinzu, scheinen sogar von ihm weg zu führen und eröffnen gleichsam einen zusätzlichen Raum von Ungesagtem. Ein Beispiel:
himmelblaue packungen
wiesen, voller dreck und klee
unter holmen löwenzähnen
distinktion statt ehre
unsrer eignen stücke
füße
spätgereift und fad und traurig
schultern brackig
komödianten, die wir sind
Wenn man Sie gebeten hätte, diesem Gedicht einen Titel zu geben, wären Sie auf forderung gekommen?Wohl nicht, aber vielleicht hätten Sie gleich das Zitat-Jäckchen aus der drittletzten Zeile identifiziert, das die komödianten um diebrackigen schultern tragen (oder schultern sie sie brackig?)...
Dass der Autor Mediziner ist, zeigt sich übrigens an einigen Fachausdrücken, und es wird wohl auch in Zukunft nicht schaden, bei der Lektüre den Pschyrembel (das medizinische Fachlexikon) zur Hand zu haben.
Wie soll nun der Leser als Kunde und Verbraucher mit diesen Texten umgehen?
Der Klappentext suggeriert in seinem leichtfüßigen Überblicksversuch eine schwungvolle Linie für den ganzen Band, die kaum zu belegen ist. Er empfiehlt uns Entdeckerlust für intelligente Sprach- und Sinnspiele. Gewiss, die Entdeckerlust ist beim Leser erst mal vorauszusetzen. Aber sie könnte mit der Zeit ermatten und von amüsierter Neugier über angestrengtes Grübeln und befremdetes Kopfschütteln zum Achselzucken übergehen. Das liegt an zwei unterschwelligen, einander widersprechenden Appellen: Durch die Veröffentlichung lädt der Autor uns zum Zuhören ein, schließt uns aber gleichzeitig aus, als ob er sich vorgenommen hätte, jegliche Erwartung zu konterkarieren und sich in den Mantel seiner Privatsprache und Privatlogik zu hüllen. Damit steht er natürlich nicht allein, wie man beim Blättern in aktuellen Anthologien feststellen kann. Bemerkenswert nur, dass sicher nicht zufällig auf dem rückwärtigen Buchcover das Gedicht ziegeninsel abgedruckt ist, eins der wenigen, das etwas durchgehend Atmosphärisches hat und daher auf den potentiellen Leser vertrauter wirkt.
Als was dürfen wir seine Gedichte also entgegennehmen: Als Musik? Als Bild? Als apart gewürztes Gericht? Als Arbeitsauftrag? Als unlösbares Sudoku? Als kalte Dusche? Als Befund? Denn was spricht dafür dass sie verstanden sein wollen? Ist Verstehen nicht von gestern? Dazu würde sich nun aus dem Off der vielstimmige Diskussions-Chor um die Verständlichkeit von Lyrik, von Literatur, von Kunst überhaupt erheben, dem ich mich hier unmöglich anschließen kann.
Der Autor liebt die Sprache, er nimmt sie ernst, auch wenn er mit ihr spielt, er verschont uns mit Befindlichkeits-Wolken und Beziehungs-Talk. Mit seinen apart verschlungenen Sprach- und Denkwindungen müssen wir selber klarkommen oder auch nicht. Der Herausgeber bietet uns in dem erwähnten Interview die Metapher von der geistigen Nahrung an: kein Fastfood sei die Lyrik, sondern sie gehöre zu den gesunden Grund-Lebensmitteln. Gut. Aber der Metapher entsprießen leicht weitere Vorstellungen wie: schmackhaft – schwer verdaulich – ungenießbar... Zum Glück gibt es ja die verschiedensten Restaurants, Speisekarten und Rezepte, so dass die Gourmets jeder Richtung auf ihre Kosten kommen.
Ich schließe mit einer beglaubigten Überlieferung aus der Verwandtschaft: Eine Tante, gute und leidenschaftliche Köchin, probierte gern neue Gerichte aus. Ihr Mann kommentierte das Ergebnis zuweilen mit der Bemerkung: schmeckt interessant. Worauf sie dieses Gericht nie wieder kochte.
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