Eingebettet in einen größeren Zauber
Seit 1928 steht verwaist in Kolumbien ein großer Überseekoffer. Er gehört dem Schmetterlingsforscher Arnold Schultze, der im unsicheren Jahr 1939 seinen Kollegen, den Geologen Otto Pichlmayer bittet, diesen Koffer nach Deutschland zu verschiffen, während Schultze selbst im September per Schiff mitsamt seinen in einem Jahrzehnt zusammengestellten botanischen und zoologischen Sammlungen von Ecuador aus aufbricht und vor Teneriffa in die britische Seeblockade gerät, wo Schiff und Lebenswerk versenkt werden. Schultze selbst überlebt und auch der von Kolumbien verschickte Koffer kommt heil im Museum in Berlin an, wird ordentlich unter „Koffer 41/Trockenmaterial“ registriert und durch die hereinbrechenden Wirren und alle Zerstörungen hinweg vergessen. Schultze überlebt den Krieg auf Madeira, ist schließlich zu alt, um den Inhalt des Koffers nochmals aufarbeiten zu können und verstirbt 1948. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später wird der Koffer wahrgenommen, geöffnet und bleibt trotz seiner verblassten wissenschaftlichen Relevanz ein märchenhafter Fund: er ist voller Schmetterlinge, geschätzte 18000 Stück, sorgsam in Papiere eingefaltet, Papiere, die sich im Alltag fanden, kolumbianische Werbezettel, deutsche Formulare, herausgerissene Romanseiten, und all diese Faltsärge sind eingestapelt in alte Zigarrenkästchen mit der grafischen, farbigen Opulenz kolonialer und kolumbianischer Tabakfirmen.
Davon erzählt dieses Buch. Und es erzählt auch von dem Leben von Arnold Schultze, nutzt seine hinterlassenen Notizen und Reisetagebücher sowie Originalschriften, immer wieder eingerahmt von wunderbaren Zeichnungen von Hanna Zeckau, die nicht nur die farbenfrohen Schmetterlinge flattern läßt, sondern auch den Zauber der alten Papiere, der Zigarrenkistchenlithos, von alten Karten und Büchern einfängt. Aber das Buch handelt auch davon, was Menschen an Schmetterlingen so fasziniert, daß sie schließlich einzelnen seltenen Exemplaren nachjagen bis in die entlegendsten Gebiete der Welt
Arnold Schultze berichtet über einen Fang 1914 in Afrika: „Wir hatten diesen Fürsten unter den Tagfaltern bereits unterhalb Likilemba vom Dampfer aus beobachtet, als das mit seinen Schwingen fast ein Fuß klafternde Tier einem Vogel gleich über den Hütten des Dorfes Bussinde schwebte. Hier an der Lagune hatte ich das kaum erhoffte Glück, den begehrenswerten Falter mit dem Netze zu decken, als er keck unter die an der Tränke stehenden Ziegen sich mischte, um seinen Durst im Uferschlick zu stillen.
Wir begegnen der paradoxen, grausamen Freude des Menschen am Sammeln und Aufnadeln herumschwirrender, zerbrechlicher Götterboten, deren Leichtigkeit und Schönheit man konservieren will, indem man sie aufspießt und sich dabei doch nur die Erinnerung daran aufpinnt, eher so wie man ein Foto einklebt, eine Erinnerung an die sonst selten so uneingeschränkt mögliche und belegbare Faszination an den Wundern der Natur.
Herausgeber und Essayist Hanns Zischler gesellt seinen Erzählungen über den Fund des Koffers und dem Leben Arnold Schultzes, dessen Dokumenten und Aufzeichnungen, weitere literarische Quellen zu, so z.B. Prosa von Vladimir Nabokov, der selbst seit seiner Jugend Schmetterlinge sammelte, oder einen wunderbaren Originalbeitrag von Constantin Rauer über „Schmetterlinge als Mimeisthai der Psyche“.
Seite nach Seite wird aus dem Konglomerat ein literarisch anspruchsvolles und wertvolles Buch, das nicht nur erstmals eine Biographie des Naturforschers Arnold Schultze aufblättert, sondern diese einbettet in einen viel größeren Zauber des Staunens.
Fixpoetry 2011
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben