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Kritik

Unüberbrückbar physische Fremde

Hannes Bajohr legt mit Koordinaten ein beeindruckendes Debüt als Erzähler zwischen Moskau, Irkutsk und Tokio vor

Roland Barthes unterscheidet in der letzten Vorlesung, die er im Winter 1979/80 am Collège de France hielt, das Buch vom Album. Es stelle „sich dem Buch als eine Struktur entgegen, die auf der Natur der Dinge beruht“. Mit Mallarmé, bei dem er sich Zitate leiht, schätzt Barthes das Album gering, weil seine Grundlage die Notiz ist. Es nehme damit eine Zwischenstellung zwischen Sprechen und Schreiben ein. Hannes Bajohrs Debüt Koordinaten ist - nach Barthes’ Unterscheidung - ein Album. Und es ist eines, das zeigt, dass Barthes geirrt hat. Bajohrs Erzählband ist dem Buch (sprich: dem Roman) nämlich unbedingt gleichrangig zur Seite zu stellen. Die fünfzehn Erzählungen fügen sich zu einem Ganzen, sie verfügen über die Kadenz, die Barthes dem Album abspricht.

Hannes Bajohr muss viel gereist sein. In Koordinaten hat er aufgeschrieben, was er gesehen hat. Sein Buch (sein Album?) ist kein Reisebericht, aber es scheint unter dem Eindruck selbst gemachter Reisen zu stehen, auch wenn nicht jede Erzählung davon handelt. Bajohrs detaillierte Beschreibungen, seine penible Genauigkeit, machen es undenkbar, dass er nicht selbst an den Orten, deren Namen viele seiner Erzählungen tragen – Moskau, Irkutsk, Tokio - gewesen ist.

„Auf der Newa, Brodskys Zunge unterm Metallgaumen, können die Schiffe noch nicht fahren und nur eine schmale Straße ist freigetaut, die zwischen den Brückenpfeilern ein Delta um die Insel bildet. Das Atmen ist nicht angenehm, wenn ruhelos die Autos in blaues Gas gehüllt ihre, scheints, tonnenschweren Karossen eng gedrängt über die beiden Brücken schieben, vorbei an der alten Börse, den beiden Leuchttürmen, der Albernheit der in ihnen eingelassenen Bootsrümpfe. Wasser und Himmel überbieten sich an Farblosigkeit und werden von der goldenen Spitze der Peterpaulsfestung verlacht. Vor ihren roten Mauern haben welche ein Loch ins Eis gehackt und nackt springen sie nacheinander hinein“

Ähnlich detailliert kommt der Blick für das vermeintlich Banale daher. Bajohr schafft Sätze, die den Leser zustimmend nicken lassen, ohne dass er sie jemals formuliert hätte. Über die Alten in New York schreibt er: „Dazu der twang, überhaupt die Fähigkeit Englisch zu sprechen, was mich auch an kleinen Kindern immer irritierte: Alte und Kinder können das eigentlich nicht.“

Bajohr beherrscht die Reduktion. Koordinaten kommt, obwohl in gewisser Hinsicht ein Buch über das Reisen, ohne Landschaftsbeschreibungen aus, die den Leser in Versuchung bringen, ganze Seiten zu überblättern. Bilder beschwört er mit wenigen Worten herauf. Virtuos, niemals sperrig, wählt Bajohr seine Worte sehr genau und ergeht sich nicht in allzu üblicher, um Poetik bemühter Wortakrobatik.

„Hinter den Rohren der Reling schieben sich Meer und Himmel ineinander. Schwarzer Mondschein auf den Schaumkronen und die Sichel selbst exakt auf Durchschnitt. Gischt, Turbinenschub und das Wetzen des Wassers am Schiffsrumpf. Die Wellen, die wie Bruchkanten eines schwarzen Gesteins ums Schiff treiben.“

Den Höhepunkt des Bandes bildet Irkutsk. Die Erzählung verlegt Henry David Thoreaus Walden nach Sibirien und ist die längste des Bandes. Sie ist weniger radikal und ihr Ende damit weniger tödlich als Sean Penns Film Into the Wild. Die Erzählerin, der Zivilisation in eine Hütte in Sibirien entflohen, erkennt, als sie aufgibt und in die elterliche Wohnung in der Stadt und zu den Menschen zurückkehrt, „dass es auch ohne sie geht, wenn es sein muss, aber es muss nicht sein.“

Bajohrs Figuren, nicht selten Ich-Erzähler, sind keine im eigentlichen Sinne handelnden Personen. Zuallererst existieren sie nur. Sie sind Reisende in der Fremde oder Einzelne unter vielen. Immer begegnen sie einer Welt, die nicht die ihre ist. Das schafft eine Distanz zum dem, was sie als Ich-Erzähler oder im stream of consciousness, den Bajohr eng mit der Erzählerstimme verwebt, berichten.

„Sie sind nicht zu fassen: die dreißig Millionen, die hier die Erde zuhalten, ich kann sie nicht ausmalen, irgendwo beschneidet immer der Horizont die aufgewühlte Vorstellung und lenkt sie ab in Bahnen und in Ruhe. [...] Ihr Metronom kann ich nicht kennen, es ist mir fremd, ich bin hier unter Millionen Wissenden der einzige, der den Takt verfehlt.“

Fähre, die letzte Erzählung in Koordinaten, bringt das Fremdsein der Figuren Bajohrs auf die Formel „was bleibt: einmal unüberbrückbar physisch Fremder gewesen zu sein“. Zugleich ist sie so etwas wie das Programm, die Tonika dieses Albums und damit der Beweis für Barthes’ Irrtum. In diesem Fall tatsächlich halb Reisebericht, halb Notizbuch, wirft die Erzählung zugleich das Barthes’sche Problem des Sprechens und Schreibens auf: „und auch wenn das Schreiben mir nicht mehr sein kann, als das Notizbuch zu zerreißen und die Fetzen auf Koordinaten aufzufädeln, die Kanten zu glätten und mich als Redenden zu denken, wo ich doch schreibe, als schreibend, wo ich doch geredet habe“. Wenn Barthes vom Album enttäuscht ist, weil es auf der Notiz beruht – und genau diesen Eindruck erzeugen Bajohrs Erzählungen ganz bewusst – will man ihm, könnte man es noch, dieses Buch reichen. Denn ein Buch ist Koordinaten ohne Zweifel. Hannes Bajohr würde wohl einfach abwinken. Am Ende aber liest es sich wie eine Botschaft an Barthes, wenn es heißt: „Schreiben ist nicht das Wichtigste“.

Hannes Bajohr
KOORDINATEN
Illustration: Jade Kim
J. Frank
2008 · 136 Seiten · 13,90 Euro
ISBN:
978-3-940249326

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