Lyrik hassen, warum?
Es gehört zu denkwürdigen Phänomenen unserer Gegenwart, dass Literatur- und Kulturzeitschriften mehr oder weniger untergegangen sind. Ja, es gibt noch den „Merkur“, „Kursbuch“, „Lettre International“ und die „Neue Rundschau“. Aber die Zeitschriften sind nicht mehr die Leitmedien eines intellektuellen Klientels, das sich selbst wiederum dessen gewiss sein konnte, halbwegs das Maß der Welt vorzugeben. In Zeiten von Trump und anderen Erfolgen ist Intellektualität eher ein Makel, denn ein Vorteil, und die Fähigkeit, sich in irgendeiner Textform elaboriert auszudrücken, ist angesichts hemmungsloser Tweets ein wenig in den Hintergrund gerückt, zumindest was die gesellschaftliche Akzeptanz angeht.
Ja, und es gibt sie noch, die „Neue Rundschau“. Im 127. Jahrgang erscheint sie im ablaufenden Jahr, was mehr ist als alle anderen Zeitschriften. Das Hausblatt des S. Fischer-Verlags hat illustre Namen gesehen und war der Druckort von intellektuellen Zierstücken allerlei Art. Aber auch die „Neue Rundschau“ hat an Bedeutung verloren, sie ist keine erste Adresse mehr, sondern der Verlag leistet sie sich, wohl auch in der Gewissheit, dass sie nicht allzu teuer zu stehen kommt, vor allem wenn sich hier ausprobieren lässt, was in der großen Form noch gewinnen muss oder dort nie hinkommen wird.
Ein Essay über die Frage, warum wir die Lyrik hassen? In den Zeitungen findet er keinen Platz mehr, Online-Foren sind nur in den seltensten Fällen daran interessiert und für ein Buch reicht er eben nicht, davon einmal abgesehen, dass niemand ein Buch über ein Genre kauft, das selbst keine Auflagen mehr macht – wie dem Anhang des zweiten Hefts des „Neuen Rundschau“ aus dem Jahr 2016 entnehmen kann, wird der Essay Ben Lerners als E-book erscheinen. Man kann gespannt sein, wie erfolgreich das ist.
„Warum hassen wir die Lyrik?“ ist der Essay des amerikanischen Lyrikers und Roman-Autors Ben Lerner überschrieben, der halbwegs im Mittelpunkt dieser Sammlung amerikanischer Essays steht. Der Ausgangspunkt ist die provozierend gemeinte Frage, welche Kunstform ihre eigene Verachtung derart in den Mittelpunkt ihrer Existenz stellt wie die Lyrik. Alle paar Jahre erscheine ein Essay in einer Publikumszeitschrift, in der der Untergang der Lyrik attestiert und ihr selbst auch noch die Mit- wenn nicht Hauptverantwortung dazu zugeschrieben werde. Mit dem Effekt, dass sich kurz darauf in der Blogsphäre ein Gewitter von Ehrenrettungen erhebt, das allerdings auch wieder nur von kurzer Dauer ist.
Ben Lerner – als Gegenwartslyriker immerhin einigermaßen renommiert – räumt ein, selbst diesen Widerspruch zu leben, nämlich bekennender Lyrikverächter und zugleich praktizierende Lyriker zu sein. Das lasse sich, wenn man dem Essay abkürzend folgen mag, vor allem deshalb aushalten, weil sich die konkrete Lyrik von der abstrakten, der absoluten grundlegend unterscheide. Das konkrete Gedicht könne niemals den Anspruch einlösen, den das absolute Gedicht erhebe. Dennoch attestiert Lerner dem Gedicht eine zentrale soziale und kommunikative Funktion. Es sei ein Ärgernis, und sei es – platonisch gesprochen –, weil es so hemmungslos wie nur möglich lügt. Weshalb es aus einem idealen Staat verbannt gehört.
Lerner fügt dem noch hinzu, dass das Gedicht in einer Weise unverantwortlich und segmentiert – eben nicht subjektiv – ist, dass es sich am Ende doch nicht für eine gute Sache in Anspruch nehmen lässt. Was wiederum alle Vorwürfe ins Leere laufen lässt, dass Lyrik heute deshalb keine Relevanz hat, weil sie keinen allgemeinen Anspruch erhebt – was anscheinend für ihre mangelnde politische Bedeutung stehen soll, und eben auch für ihre sinkende Akzeptanz spricht.
Nun mag in den USA sowieso alles anders sein als in Europa oder im deutschsprachigen Raum, aber es ist auffallend, dass nicht die sinkende Repräsentanz der Lyrik in den vormaligen Leitmedien der intellektuellen Kultur konstatiert wird, sondern vor allem ihre sinkende Rezeption, ihre sinkenden Auflagenzahlen. Sie gehe, referiert Lerner einen jener von ihm angeführten Untergangsessays, nicht mehr über den subjektiven Erlebnishorizont ihrer Autoren hinaus, was dann wohl zurecht niemanden mehr außer ein paar Hanseln interessieren mag. Das kommt angesichts der Kommerzialisierung von Sprache und Kultur – wahlweise auch der Etablierung von verbindlichen Leitkulturen – einer Selbstaufgabe der Lyrik gleich. Und das obwohl im Netz Lyrik ungeheuer vital sein soll.
Diese Argumentationslinie führt Lerner in der gebotenen Kürze vor, um dann in der Länge und Breite die vorgeblich so zentrale Repräsentanz des Allgemeinen in der Lyrik zu demontieren. Ebenso wenig wie die Lyrik allgemein sprechen kann, soll sie es überhaupt. Die Vorstellung, dass sie damit gesellschaftliche Relevanz behaupten kann, geht, so Lerner, einfach an der Lyrik, ihren Charakteristika und ihre Aufgabe vorbei. Aber das ist eben auch einfach nachzuweisen, weshalb Lerner die Kritiker und Verächter der Lyrik schließlich auffordert, vor allem eines zu tun: besser zu werden in ihrer Kritik. Wenn sie so schnell auszuhebeln sei, dann habe davon niemand etwas – dem nur heftig zu akklamieren ist.
Freilich ist das auch zurückzugeben, wenn man sich das Niveau der Lyrik-Verteidiger – abseits von Lerner – in Deutschland anschaut: Da wird ein hinreichend erfolgreicher Lyrik-Band, der den Leipziger Buchpreis erhält, zum Paradigmenwechsel ausgerufen. Und selbstverständlich ändert sich nichts danach. Oder jemand erhebt die Stimme für die Sensibilisierung der Sprache durch die Lyrik. Oder die nächste erhebt die Stimme für das Auswendiglernen von Gedichten. Es braucht also gar keine Untergangspropheten, die Lyrik begräbt sich ja fein selbst. Zumindest einige Lyriker tun das. Dafür aber muss man nicht die Lyrik hassen.
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