So wie du wollte ich nie werden
„Tumult“ übertitelt Hans Magnus Enzensberger seinen autobiographischen Band und hat damit wohl einen dreifachen im Sinn. Einmal den objektiven Tumult der bewegten sechziger Jahre, bei dem er nicht nur als Herausgeber des Kursbuchs selbst kräftig mitgemischt hat, dann den subjektiven Tumult, den der „amour fou“ mit einer jungen Russin 1966 in sein Leben brachte, und schließlich wohl auch die Irrtümer jener Jahre, die den 85-Jährigen bis heute beschäftigen dürften. „Ich begreife nicht ganz, wie in tausend Tagen überhaupt so viel passieren konnte“ meint das aktuelle Enzensberger-Ego und spricht deutlich aus, dass ihm der damalige Enzensberger fremd geworden ist.
Denn der scharfzüngige, allen stets vorauseilende Autor hatte sich im Laufe der Studentenrevolte festzulegen begonnen („In der Tat, was auf der Tagesordnung steht, ist nicht mehr der Kommunismus, sondern die Revolution.“) und mit seiner Übersiedlung ins revolutionäre Kuba im Herbst 1968 weit aus dem Fenster gelehnt. Dass er vor Ort sehr bald erkannte, was tatsächlich im tropischen Sozialismus gespielt wurde, und dass er darauf reagierte, zeugt von moralischer Integrität, war aber eine bittere Erfahrung, die ihn zur Revision seiner Positionen zwang.
Das Buch ist eine Collage aus fünf verschiedenen Texten. Die ersten hundert Seiten nehmen die Reisenotizen ein, die HME 1963 und 1966 anlässlich seiner beiden Reisen in die Sowjetunion verfasste. Die letzten hundertfünfzig Seiten bestehen aus einem fingierten Dialog zwischen dem jetzigen und dem damaligen Enzensberger, der Erinnerungen an einen Tumult 1967-70 überschrieben ist, er ist das Herzstück des Buches im doppelten Sinn. Dem folgt Danach (1970ff.), Notizen aus den Siebzigern, die anhand von Stichwörtern dokumentieren, wie HME „von den politischen und privaten Obsessionen“ der vorangegangen Jahre Abschied nahm. Aber es wäre nicht Enzensberger, wenn er gegenüber autobiographischen Ergüssen nicht „methodische Skrupel“ verspüren würde, worüber er in den Prämissen (2015) in der Mitte des Buchs auf wenigen Seiten Auskunft gibt. Er gesteht nicht nur, dass sein Gedächtnis „einem Sieb gleicht“, HME weiß nur zu gut, dass „auf Zeugenaussagen in eigener Sache kein Verlass ist“. Aber „Konsequenz war nie meine Stärke“ sagt er über sich selbst und so wird der zufällige Fund einiger alter Pappschachteln mit vergessenem Material (wenn es nicht wahr ist, so ist es zumindest gut erfunden) zum Anlass für dieses Buch.
Bei seiner ersten Reise nach Russland im Sommer 1963 ist Enzensberger, der bis zu diesem Zeitpunkt als Lyriker und Essayist von sich Reden gemacht hatte, eine glatte Fehlbesetzung, da er zu einem Schriftstellerkongress nach Leningrad eingeladen wird, der sich den „Problemen des zeitgenössischen Romans“ widmen soll. Das verhindert aber nicht, dass er bald zum Star des Treffens aufsteigt, das mit Sartre, Beauvoir, Golding, Ungaretti, Scholochow, Ehrenburg, Jewtuschenko u.a. nicht wenig prominent besetzt ist. Das Mastermind der Gruppe 47, der miteingeladene Hans Werner Richter, muss voller Neid zusehen, wie sich alles um den blonden Wirbelwind zu drehen beginnt und Enzensberger bei einer Lesung sogar als „der Organisator und Chef der antifaschistischen Kampfgruppe 47“ angekündigt wird. Eine handverlesene Schar erhält anschließend eine Einladung nach Gagra, wo es an einem heißen Augusttag zum legendären gemeinsamen Bad von Enzensberger mit Chruschtschow im Schwarzen Meer kommt.
1966 wird Enzensberger erneut eingeladen, diesmal aber mit einem sensationellen Doppelvorschlag. Einerseits soll er am Friedenskongress in Baku teilnehmen, andererseits wird ihm eine Individualreise durch die Sowjetunion angeboten, die er Großteils mit dem Dolmetscher Kostja Bogatyrjow absolviert, mit dem zusammen er auch gleich die regelmäßigen Berichte verfasst, die dieser dem KGB schuldet.
Dem illusionslosen Blick Enzensbergers entgehen weder die Kontinuitäten des zaristischen Hierarchiedenkens in der Sowjetbürokratie noch der Warenfetischismus der Bevölkerung, für die Güter aus dem Westen Statussymbole darstellen. Der Dichter, der nicht umsonst zwei seiner Essaybände „Einzelheiten“ betitelt hat, versteht es wesentliche Einsichten dem Detail abzugewinnen, so etwa wenn er die ihm zugewiesene riesige Suite im Hotel Peking beschreibt, die mit einem ebenso überdimensionierten Bad ausgestattet ist, dessen gusseisernen Badewanne dann aber der Stöpsel fehlt.
In der Schriftstellerkolonie Peredelkino bei Moskau lernt er die 23jährige Maria Aleksandrowna Makarowa, kurz Mascha, kennen, die Tochter der jüdischen Lyrikerin Margerita Aliger und des Romanciers Alexander Fadejew, der unter Stalin Sekretär des Schriftstellerverbands war und 1956 nach Chruschtschows Rede über die Verbrechen der Stalinära Selbstmord begangen hatte. Enzensberger ist sofort von den „großen erwachsenen Augen und kindlichen Händen“ der jungen Frau bezaubert und ihr „Liebesroman“ ist der verworrene Faden, der die zwei großen Textblöcke zusammenhält. Beide sind zum Zeitpunkt des Kennenlernens verheiratet und müssen sich erst scheiden lassen, bevor sie in Moskau am 20.6.1967 heiraten und Mascha anschließend nach Berlin kommen kann.
„Mein Lieber, was hast du dir bei alledem gedacht?“, will der heutige Enzensberger von dem knapp vierzigjährigen in der Doppelconference Erinnerungen an einen Tumult wissen, die wie jedes Selbstgespräch auf einer Aporie beruht. Keiner hat das grundlegende Dilemma jeder ich-setzenden literarischen Fiktion besser formuliert als er selbst 1978 in seinem Abgesang auf die Utopie: „Weil es also ein anderer ist,/ immer ein anderer,/der da redet/und weil der,/ von dem da die Rede ist,/ schweigt.“ (Der Untergang der Titanic). Es spricht also stets das ältere Ich, auch wenn es auf frühere Texte zurückzugreifen vermag, um das frühere Ich zu konstruieren. Dabei fällt auf, wie Enzensberger, der tief in die Umbrüche der sechziger Jahre involviert war und mit den 1965 von ihm mitbegründeten Kursbüchern zum Stichwortgeber der Studentenbewegung wurde, klare Distanzierungen zu damaligen Ereignissen und Personen vornimmt, die nicht immer plausibel klingen. Der Autor beschreibt seine damalige Rolle als „teilnehmender Beobachter“, der zwar bei diesen, die BRD grundlegend verändernden Ereignissen dabei sein wollte, andererseits aber durchaus seine Vorbehalte hatte. Dass ihn die damaligen Aktivisten anders wahrgenommen haben, lässt sich aus zwei Episoden erschließen.
Nach der Trennung von seiner Frau Dagrun war er von Norwegen wieder nach Deutschland gezogen, und zwar in ein Haus in Berlin Friedenau, in dessen Nähe schon Johnson, Grass und Frisch lebten. Wie er schreibt, gingen bei ihm die unterschiedlichen Fraktionen der APO ein und aus und hielten dort Sitzungen ab. Während er sich auf einer Italienreise befand, zog die am 1.1.1967 gegründete Kommune 1, der sowohl sein Bruder Ulrich als auch Dagrun angehörten, in sein Haus ein. Als er zurückkehrte und sie dort vorfand, warf er sie hinaus. Wie dieser „schwachsinnige Verein“ darauf kommen konnte, bei ihm einzuziehen, ist ihm ein Rätsel. Ähnlich erstaunt war er, als im Mai 1970 Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, die gerade Andreas Baader „bei einem Freigang gewaltsam befreit haben“ unvermittelt vor seiner Tür standen und von ihm Fluchthilfe erwarteten.
Die lang herbeigesehnte Vereinigung mit Mascha findet schließlich wenige Tage nach der Heirat im Juni 1967 in Berlin statt und mündet in „eine Katastrophe“. Die junge Frau hatte für den Dichter ihr bisheriges Leben aufgegeben, findet aber einen vielseits verstrickten und in Anspruch genommenen Enzensberger vor, was sie zur Flucht nach London veranlasst. Als der Autor ein Angebot bekommt, ein gut dotiertes akademisches Jahr an der Wesleyan Universität in Connecticut zu machen, ergreift er die Möglichkeit, um mit Mascha dort neu zu beginnen. Das Idyll in den USA endet nach wenigen Monaten abrupt mit einem öffentlichen Skandal. Enzensberger hatte im Frühjahr 1968 eine Einladung zu einem Kulturkongress nach Kuba angenommen und ist von der „euphorischen Stimmung“ in Havanna so begeistert, dass er beschließt, mit seiner Frau auf die Insel zu ziehen. Der Brief, in dem Enzensberger dem brüskierten Gastgeber seine Motive darlegt, erscheint in der New York Review of Books unter dem Titel „Warum ich Amerika verließ“. Darin erklärt er, dass er die USA, die „die politische, ökonomische und militärische Weltherrschaft“ anstrebe, verlassen musste, um seine Glaubwürdigkeit wieder herzustellen. „Eine Peinlichkeit nach der anderen“, kommentiert der ältere Enzensberger sein damaliges Handeln.
Kuba ist der zweite wichtige Strang in diesem Dialog, auf den das frühere Ich immer wieder zurückkommt. Zwar moniert das ältere, dass das „heutzutage niemand mehr wissen“ will, doch als Leser, zumal als Kubakundiger, darf man sich glücklich schätzen, dass HME ausführlich von dieser Episode seines Lebens erzählt. Im Herbst 1968 kehrt das Ehepaar als „técnicos extranjeros“ (und nicht „tecnicos estranjeros“, wie es im Buch heißt) nach Kuba zurück, doch aus der beim erstmaligen Besuch akkordierten Stelle als Diplomatenausbildner wird nichts. Die Kubaner haben sich in der Zwischenzeit wohl genauer angesehen, wer ihnen da ins Nest gefallen ist, und daraus ihre Schlüsse gezogen. Stattdessen schickt man die Enzensberger auf eine dreiwöchige Reise über die Insel und quartiert sie anschließend ins noble Hotel Nacional ein: „Gemessen an der Situation der normalen Cubaner führten wir ein Milliardärsdasein.“ Seine sowjetgeeichte Frau erkennt sehr schnell, was in Kuba gespielt wird, als russische KGB-Leute auf der Insel aufzutauchen beginnen. „Über die Illusionen der Besucher aus dem Westen, die in Castro und seinen Comandantes eine letzte Chance für den Sozialismus sahen, machte sie sich lustig. Doch mir gegenüber ging sie erstaunlich geduldig vor.“ Tatsächlich „kapiert“ HME recht bald, wohin die Reise geht. Die stalinistischen siebziger Jahre Kubas sind als das graue Jahrzehnt in die Geschichte eingegangen. Enzensberger formuliert auch hier wieder unbestechlich und lässt kaum eines der Verbrechen oder Versagen der kubanischen Revolution unerwähnt.
In den abschließenden Aufzeichnungen aus den Siebzigern analysiert er die Folgen der Studentenrevolte, die zu einer Normalisierung in der BRD geführt habe, obwohl sich mit dem aufziehenden RAF-Terror bald eine neue Hysterie der Bundesrepublik bemächtigen wird. Gegen die Protagonistenrolle, die ihm immer wieder zugeschrieben wurde, verwehrt er sich. „Aber einen Rest von Komplizentum konnte und kann ich nicht abstreifen.“
Wer Enzensbergers Rolle und den Kontext seiner autobiographischen Aufzeichnungen besser verstehen will, ist gut beraten auf Jörg Laus ausgezeichnet recherchierte Biographie „HME. Ein öffentliches Leben“ von 1999 zurückzugreifen.
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