Alles unter einem Hut
Unterschiedliche lyrische Temperamente unter einen Hut bringen? Mit Lyrik hat man wenig am Hut? Ich ziehe den Hut vor diesen Texten? Besser der Hut ist verrückt als der Kopf? Der Strohhut auf dem Cover, welcher ein wenig das runde, gelbe Logo um das „a“ in „allmende“ in eine andere Dimension variiert, läßt viele Interpretationsmöglichkeiten zu, ist aber vielleicht einfach nur das, was er ist, nämlich ein „Chevalier-Strohhut, genäht von José F. A. Olivers Mutter in der letzten Strohhutfabrik ‚Wolber & Pfaff‘ in Hausach“, wie es auf der ersten Seite links unten in der Ecke der Zeitschrift unaufdringlich erläutert wird. Ohnehin beweist der Herausgeber Hansgeorg Schmidt-Bergmann einen gewissen Sinn für Ironie oder immerhin leise Provokation, denn „Über Gedichte ist schwer reden“ – diese Überschrift prangt da in signalroter Schrift als Einladung vorne auf dem Cover. Über dem Hut. Unter diesem zum Motto genommenen Diktum des Literaturwissenschaftlers Max Kommerell diskutiert der Herausgeber in seinem Editorial, das einen Abriss der Lyriktheorien von Benn (Probleme der Lyrik) über Grünbein (Artistik und Existenz) bis Cotten, Falb, Jackson, Popp und Rinck (Helm aus Phlox) beinhaltet, die Legitimationen der Lyrik im 21. Jahrhundert.
Aber die seit über dreißig Jahren erscheinende Literaturzeitschrift allmende legt in ihrer neunundachtzigsten Ausgabe eine erstaunlicherweise desto leichtfüßigere Sammlung von Gegenwartslyrik vor. Und „Über Gedichte ist schwer reden“, das ist natürlich auch gut so: Denn das Gegenteil, daß über Gedichte etwa leicht zu reden wäre, mutete doch eher despektierlich und reizlos an bei einer Textform, die intellektuell herausfordern und zur längeren Meditation anregen will. Leichtverdaulichere Kost, die neuerdings auch unter dem Surrogat „Realpoesie“ firmiert, findet man im Kölner Karneval und auf FDP-Parteitagen zu Genüge. Nur eben langweilig sollte ein Gedicht nicht sein. Aber auch das ist ein weites Feld, und übrigens in dieser Ausgabe kaum der Fall, denn auf den 104 Seiten bekommt man eher den Eindruck, es mit abwechslungsreichen Spezialitäten als mit lyrischem Spezialistentum zu tun zu haben, angefangen bei Silke Scheuermanns Langgedicht „Skizze vom Gras“. Der Eingangsvers „Es war das Jahr, als sie das Ministerium für Pflanzen auflösten“ erinnert mich entfernt an Hans Arps „Es ist ein großes Mondtreffen anberaumt worden“. Doch was bei Arp konkludent dadaistisch als absurd-skurrile Hyperbel angelegt ist, wendet sich bei Silke Scheuermann in eine tragische ökologische Hymne der Vergänglichkeit, eine im Präteritum sich präsentierende Utopie. Daß diese als Langgedicht gesetzt ist, als Prosagedicht, ist klug durchdacht. Denn wenn das dichterische Werk in toto als lückenlose Kurzprosa präsentiert worden wäre – es hätte ein gut Teil seiner Tiefe und Stimmung eingebüßt; es wäre da eine bloße assoziative Kette entstanden, die ohne die hier wichtige pathetische Dimension der Strophensetzung sich unter Wert offeriert hätte. Im Sinne des Legitimationsdiskurses aus Schmidt-Bergmanns Vorwort ist „Skizze vom Gras“ also geradezu paradigmatisch für die Daseinsberechtigung prosaischer Langgedichte.
Im Kontrast dazu präsentiert sich der Ettlinger Lyriker Matthias Kehle, dessen vier Berggedichte fast holzschnittartig reduziert erscheinen; Hochtäler machen philosophisch, das weiß ich aus eigener Erfahrung (es fängt so etwa bei 1000m überm Meeresspiegel an), trotzdem: Berggedichte zu schreiben ist irgendwie keine leichte Übung. Aber Kehle arbeitet die einsam-tonlosen, majestätischen Stimmungen des sich im Gebirge relativierenden Wanderers fast japanisch heraus, die Leere wird Form, jegliche Geschwätzigkeit verliert sich, und hinter einem Zen-Spruch wie: „Wenn du auf den Gipfel eines Berges kommst, klettere weiter“ folgt vielleicht nur mehr das Gedicht, sinngemäß bei Kehle auf sein Wesentlichstes destilliert:
„Ich habe mich verstiegen / ausgesetzte Stille dort / oben Wolken wie Propheten / Fallstreifen Luftverkehr / Hier die nächste Steilstufe / abschüssiges Geröll // geschliffene Wärme / wohin ich greife kein Zeichen / abwegig wohin ich sehe / habe ich mich verlesen“.
Zurück an die Küste führen dann Ron Winklers Beiträge „Islandpartie“ und „Tage am Meer“. Winkler hat mit der Zeit, kann man sagen, einen unverwechselbaren Stil entwickelt, so dass an anderer Stelle jüngst gar von „ron-winkler-like“ die Rede war. Unverbraucht zeigt er auch in dieser allmende-Ausgabe weiterhin sein Spiel aus Verfremdungseffekten „(…) Geysire / säumten unser Fleisch, du hattest mich / mit Zauber ausgekleidet und die Fische, kleine Lämmer / Gottes, schwammen in eins, es gab nur eine Sonne / und zwei Münder (…)“ und Wortneuschöpfungen („Achtstundenjahr“, „Meermodul“, „Tränendoubles“). Mit seinem konsequent durchgehaltenen Kunstgriff der bewußten und spielerischen Dekonditionierung linearer Erfahrungswelten öffnet er weiter verläßlich seine kritisch-psychedelischen Parallelrealitäten.
Überhaupt ist es erstaunlich, wie viele Erstveröffentlichungen - von Stan Lafleurs eigens für diese Ausgabe remixten Gedichten „Am Rhein“ und „Am Bosporus“ bis hin zu Daniela Seels titelloser, geheimnisvoller Strandgutparabel über die Entstehung von Poesie - bei einer solchen Dichte an etablierten Dichtern diese Ausgabe beinhaltet. Sehr interessant sind die ausgesuchten Bilddokumentationen von bearbeiteten Manuskripten aus der Karlsruher Ausstellung „Literatur in Baden-Württemberg 1970-2010“, die hier und da die Gedichte kommentieren. Alles in allem erwächst aus der Streuung der zahlreichen Fotos, der Berichte, beispielsweise über das Münchner Lyrik Kabinett ( Maria Gazzetti, die Geschäftsführerin der Stiftung, stellt diesen renommierten literarischen Ort eigens vor), eines lesenswerten Essays von Matthias Göritz über die Renaissance der politischen Lyrik mit Beispielgedichten etwa von Ulf Stolterfoht, Hendrik Rost und Bertolt Brecht, jeder Menge Buchrezensionen (Celan, Mayröcker, Lafleur, Eules, Stadler, Bossong u.v.m.), einigen Veranstaltungshinweisen und Kurzmeldungen aus dem Lyrikbetrieb aus einer bloßen Lyrikanthologie eher ein Journal rund um die Lyrik, das über das, worüber „schwer reden“ ist erwartungsgemäß dann gewichtig viel zu sagen hat.
Mit Beiträgen von: S.F. Ahrens, Nico Bleutge, Nora Bossong, Tom Bresemann, Carolin Callies, Elke Cremer, Christophe Fricker, Claudia Gabler, Maria Gazzetti, Matthias Göritz, Alexander Gumz, Ulla Hahn, Reinhard Hammer, Björn Hayer, Nancy Hünger, Matthias Kehle, Andreas Kohm, Nadja Küchenmeister, Stan Lafleur, Gustav Landauer, José F. A. Oliver, Karl-Heinz Ott, Kerstin Preiwuß, Timothy J. Senior, Silke Scheuermann, Daniela Seel, Jan Wagner, Ron Winkler
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