Menschenrechte als normatives Projekt
Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für den Historiker Heinrich August Winkler
Die Gegenwart ist der flüchtigste aller zeitlichen Fluchtpunkte
schreibt Heinrich August Winkler im vierten und letzten Band seiner "Geschichte des Westens", der in dieser Rezension besprochen wird. Darin beschäftigt er sich mit der "Zeit der Gegenwart", nachdem er seit 2009 die Bände "Von den Anfängen in der Antike bis zum 20 Jahrhundert", "Die Zeit der Weltkriege 1914 -1945" und "Vom Kalten Krieg zum Mauerfall" veröffentlicht hat.
Die Zeit der Gegenwart beginnt für ihn mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 und endet im Jahr 2014, einem Jahr, von dem er schreibt, dass es vielleicht von späteren Historikern wegen der völkerrechtswidrigen Einverleibung der Krim, dem Vordringen des IS in Syrien und dem Irak, wegen des taktischen Zusammengehens von Iran und den USA sowie wegen des Ausgreifens Chinas im ost- und südchinesischen Meer als weltgeschichtliche Zäsur angesehen werden wird. Allerdings verweist er sofort auf die Vorläufigkeit dieser Beurteilung, weil für die jüngste Vergangenheit wichtige Quellen noch nicht zur Verfügung stehen. Gleichwohl habe die Geschichtswissenschaft einen Beitrag zur Ortsbestimmung der Gegenwart zu leisten.
Ausgangspunkt, Leitmotiv und normativer Fluchtpunkt von Winklers gesamter "Geschichte des Westens" ist die Frage nach dem normativen Projekt des Westens. Darunter versteht er jene Entwicklung von Werten, die sich besonders im lateinischen - sprich: in dem von der Westkirche geprägten - Teil Europas abgespielt und in den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen niedergeschlagen hat. Bei seiner Untersuchung lässt sich Winkler von drei Gesichtspunkte leiten:
Erstens: inwiefern die Entwicklung innerhalb der zweihundert magischen Jahre zwischen 1789 und 1989 eine Geschichte von Kämpfen der Aneignung oder Ablehnung jener Ideen war, die aus der Amerikanischen Revolution 1776 sowie aus der Französischen Revolution 1789 entstanden sind. Da diese Ideen allerdings sehr häufig missachtet wurden (und werden), betrachtet Winkler zweitens die Geschichte des Westens auch als eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte, und drittens als eine Geschichte der permanenten Selbstkorrektur und Selbstkritik.
Das Interesse der Geschichts- und Sozialwissenschaften an normativen Fragen sei in letzter Zeit stark gestiegen, so dass man fast von einem 'normative turn' sprechen könnte. Winklers beharrliches Augenmerk auf die Frage, inwiefern das normative Projekt der Amerikanischen und der Französischen Revolution - also die unveräußerlichen Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität und die repräsentativen Demokratie - zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten be- oder missachtet wurden, bildet die Klammer seiner umfassenden Betrachtung, die weit über den Westen hinausgeht.
Schon im Vorwort verweist Winkler auf die Defizite der demokratischen Entwicklung. Zwar würden die westlichen Demokratien (dazu zählt er außer den europäischen Ländern noch die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Israel) über einen gemeinsamen Horizont verfügen und aus diesem ihrem Wertehorizont heraus einen "Welthorizont" anstreben. Doch davon seien sie teilweise aus eigener Schuld weit entfernt, weil der Westen in seiner politischen Praxis dazu neige, sein eigenes normatives Projekt zu dementieren. Davon ist in der gesamten "Geschichte des Westens", einschließlich dieses letzten Bandes, immer wieder die Rede. In drei großen Kapiteln wird die Zeit zwischen 1991 und 2014 aufgerollt.
"Vom Triumph zur Tragödie: 1991 - 2001" - Schon hier wird deutlich, worauf sich Winkler in den eben erwähnten Stellen im Vorwort bezieht: Zwischen Maastrich und Schengen, Amsterdam und Nizza versuchte die Europäische Union nicht immer erfolgreich, sich zu vergrößern und gleichzeitig zu vereinen. Die Kapitel über die EU lassen sich kaum ohne den Bezug zu aktuellen Problemen lesen. Die Aufnahme so vieler unterschiedlicher Länder, noch dazu später teilweise unter einer einheitlichen Währung, wird von Winkler durchaus kritisch gesehen, weil manche Neumitglieder der EU nicht so viel von ihrer gerade gewonnenen Souveränität abgeben wollten.
Srebenica und Kosovo können als Beispiele genannt werden, bei denen das normative Projekt des Westens gründlich danebenging. Die in der Überschrift erwähnte Tragödie ist 9/11, also der Terroranschlag 2001 auf das World Trade Center in New York. Von diesem Ereignis sagt Winkler, es würde den Anfang der Unsicherheit im 21. Jahrhundert darstellen.
Im zweiten großen Kapitel - "Vom 'Krieg gegen den Terror' bis zur Weltfinanzkrise: 2001 – 2008" - betrachtet Winkler unter anderem die Politik von George W. Bush, die er nicht nur wegen des völkerrechtswidrigen Kriegs im Irak und den Folterungen in Abu Ghraib und anderswo äußerst kritisch beurteilt. 9/11, so schreibt er, hatte das Zeug, zu einer großen Bewährungsprobe nicht nur der USA, sondern des ganzen Westens und seines normativen Projekts zu werden.
Auch das dritte Kapitel "Das Ende aller Sicherheit 2008 – 2014" ist nicht besonders tröstlich.
Winkler zeigt, dass mit der Schuldenkrise, dem arabischen Frühling, der Ost-West-Konfrontation in der Ukraine und vor allem bei der Globalisierung des Terrors die westlichen Staaten oft überfordert und konzeptlos waren. Beispielsweise bezweifelt Winkler, ob es richtig war, dass Obama die US-Truppen aus dem Irak abzog und ein Vakuum hinterließ, in das der IS vordringen konnte. Gleichzeitig weitete Obama den Drohnenkrieg im Vergleich zu seinem Vorgänger über die Maßen aus. Auch Europa bekommt in diesem Kapitel wieder keine guten Noten. Die EU sei unfähig, eine überzeugende Antwort auf die Herausforderungen und die Probleme der globalisierten Welt zu geben. Hingegen – und das könnte Winkler genmausogut erst dieser Tage, also März 2016, geschrieben haben – präsentierten sich die EU-Mitglieder als postklassische Nationalstaaten.
Es ist unmöglich, Winklers umfassende Ausführungen mehr als nur ansatzweise wiederzugeben. Ausführlich geht er auch auf Putins Russland, auf China, auf Indien und andere BRIC-Staaten ein. Dabei bildet seine Ausgangsfrage nach dem normativen Projekt den Hintergrund, vor dem er die Ereignisse beurteilt.
Ein sehr interessanter Abschnitt dieses sehr anschaulich geschriebenen Werkes ist auch das letzte Kapitel, "Rückblick und Ausblick", dem Winkler den Untertitel "Vom normativen Projekt zum normativen Prozess" gibt. Hier kommt er auf die wichtigsten Ergebnisse der vorangegangenen Bände seiner "Geschichte des Westens" zurück. Mich hat die These überrascht, dass am Anfang der beschriebenen Entwicklung der Monotheismus gestanden sei, und sich aus ihm später nur im Bereich der Westkirche die Trennung zwischen weltlichen Herrschern und Papsttum entwickelt habe. Die demokratischen Werte selber seien dennoch nicht an das Christentum gebunden. Trotz der vielen Hindernisse und Rückschläge - zum Beispiel durch die Gefahr eines entfesselten globalisierten Kapitalismus - sieht Winkler die subversive Anziehungskraft der Ideen von 1776 und 1789 weltweit ungebrochen. Der Westen dürfe seine Werte aber nicht anderen aufzwingen. Das Beste, was er im Namen seiner Werte tun könne, sei, sich selbst an sie zu halten und jedes Abgehen von ihnen rückhaltlos zu kritisieren. Wohl wahr.
Der mit 20.000 Euro dotierte Preis wird dem 76-jährigen Heinrich August Winkler am 16. März 2016 im Gewandhaus in Leipzig verliehen.
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