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Kritik

Sechsfach vom A zum Z

Ein ganz erstaunliches Buch hat Helmut Hannig mit seinen "lektyrischen artefacten" vorgelegt
Hamburg

Es lohnt sich, zunächst einmal die Großstruktur dieses Abecedariums genauer anzusehen - ihr nämlich verdankt dieses Buch einen Großteil seines Zaubers. Helmut Hannig führt uns gleich sechsfach vom A zum Z.

Zu Beginn jedes Kapitels findet sich zur Einführung des jeweiligen Buchstabens die Abbildung einer Seite der Nibelungenhandschriften, auf der die betreffende Letter in der Art einer Initiale hervorgehoben erscheint. Es schließen sich zwei Gedichte Helmut Hannigs an, deren Titel mit dem jeweiligen Buchstaben (oder, bei Vokalen, auch mit dem dazugehörigen Umlaut) beginnen. Auf den folgenden Seiten - und jetzt wird es etwas verwirrend - geht es weiter mit der Kurzbiographie eines Schriftstellers, Malers oder Komponisten, dessen Nachnamen mit dem fraglichen Buchstaben beginnt, dann mit der Transkription einer Handschrift des betreffenden Künstlers oder der betreffenden Künstlerin, worauf - als zweites Herzstück des Buches - neben den Gedichten ein Holz- oder Linolschnitt dieser Künstler folgt, prachtvoll gedruckt auf Transparentpapier. Hinter dieser transparenten Seite wiederum, leicht durchscheinend, wird das jeweilige Buchstabenkapitel beschlossen mit einem Faksimile der Künstlerhandschrift, vor dem Hintergrund des wie durchgepaust wirkenden Künstlerportraits.

Das klingt in der Beschreibung etwas kompliziert. Hat man jedoch das Buch in der Hand, fügt sich diese Abfolge ganz organisch zu einem Ganzen. Vor allem ist es überaus spannend, nach Querverweisen zwischen Helmut Hannigs Gedichten, den Handschriften und den Lebensläufen der Künstler und Künstlerinnen zu suchen. Oder sich zu überlegen, wie es zu dieser idiosynkratischen Auswahl von Gewährsleuten kam, die von A wie Berthold Auerbach, über Le Corbusier, Lyonel Feininger, Else Lasker-Schüler, Felix Mendelssohn Bartholdy, Helmut Qualtinger und Xenophon, bis Z wie Stefan Zweig reicht. Doch sollte man bei allen optischen, haptischen und deiktischen Qualitäten, die dieses Buch in Fülle bietet, nicht vergessen, Helmut Hannigs Gedichte als autonome Gebilde zu betrachten, die von ihrem Kontext profitieren, jedoch keineswegs auf ihn angewiesen sind.

Weshalb ich an dieser Stelle mein Lieblingsgedicht komplett zitieren möchte. Es trägt den Titel "gebeutelt" und geht so:

gebeutelt

fühlt sich der Einzelne
wie die ganze Nation
es kommt immer
auf die Sichtweise an

nach oben hin
werden die Beutel größer
nach unten
kennt man nur den Strumpf

doch Jeder
hält ihn hin
die Art ist verschieden
wie auch der Anlass

nur Strümpfe werden
selten praller
sie hängen durch
und Löcher dehnen sich
es kommt einfach
zu wenig darin vor

zu wenig auf den Weg
und diese bleiben im Dunkeln
Kanäle deren Strukturen
nur Eingeweihte kennen
der Aufrichtige traut sich nicht
der Scheinheilige
braucht die Mittel
um ihn zu wahren

und wenn nicht alles trügt
wird nicht einmal
der Schein gewahrt
von Spesenverbrennern
und Schmiergeldschleim
der direkte
Griff als Vorteilsnehmer
in OP-Handschuhen
ist abgesichert

damit alles
unter der Hand
clean bleibt

So mehrdeutig und doppelsinnig, ganz aus der Arbeit am Sprachmaterial heraus entwickelt, können politische Gedichte also auch sein! Wie sich da der gebeutelte Beutel in den leeren Sparstrumpf verwandelt, an dem einzig die Löcher größer werden, wie der gewahrte Schein, als Geldschein, zum trügerischen wird, sozusagen unter der Hand, das ist schon ziemlich gut und clever konstruiert, und je länger man draufschaut auf dieses Gedicht, um so mehr Bezüge, Symmetrien und Parallelismen wird man entdecken. Und es ist sicher kein Zufall bzw. nicht nur dem Buchstaben G geschuldet, dass auf dieses Gedicht  Lebenslauf, Handschrift und Porträt des Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen folgen, des wahrscheinlich besten Ahnherrn, den man sich für Hannigs Buch vorstellen kann.

Es ist eine große Freude, diesen wirklich schön gemachten und komponierten Band in der Hand zu halten, es ist eine noch größere, die Holz- und Linolschnitte Helmut Hannigs zu betrachten, die größte Freude aber ist es, seine Gedichte zu lesen. Und das sollte man dann einfach tun!

Helmut Hannig
lektyrische artefacte
Galerie des abc
Oehler Medien
2014 · 230 Seiten · 49,50 Euro
ISBN:
978-3929551839

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