Let go
Band 15 der Reihe Prosa im kookbooks Verlag: Hendrik Jacksons sein gelassen, im Untertitel Aufzeichnungen. Das ist ein kleiner Band im Postkartenformat, mit schwerer schwarzer Type auf dem Einband bedruckt, der Anfang des Textes, schmucklos, überschriftslos hart – wie ein nicht-kategoriales Programm angekündigt. So ist diese Prosa: unkategorisierbar. Irgendwo tauchen Verwandte auf, vielleicht Bekenntnisse, Augustinus, Rousseau etc., vielleicht Roland Barthes' Begebenheiten - Incidents oder dessen Fragmente und Notate zu Mythen, Gefühlen und weitfeldrigen Beschauungen, vielleicht am ehesten sogar sein Tagebuch der Trauer. Denn Trauer ist das vorherrschende Thema in sein gelassen. Auf etwa 150 Seiten spannt Jackson Fragment um Fragment oder Kapitel um Kapitel auf, um einen Textraum der Trauer zu entwerfen. Im kurzen Nachwort heißt es, dieser Text sei schon früh, in den Zweitausender Jahren, in seiner Entstehung begriffen gewesen, habe sich dann aber bis heute verschiedenen Umarbeitungen, Reifeprozessen etc. unterzogen, um jetzt (Ende 2016) schließlich erscheinen zu können.
Der Erzähler, wobei dieser Begriff nicht ganz trifft, (ist es einfach eine Stimme, ein Stift, oder gar Jackson selbst?) berichtet von einer erschütternden Tat, dem Suizid der Geliebten und den Folgen dieser Tat auf die Gefühle des Umgehens mit ihr. Bleich, irgendwie nackt, ohne Rüstzeug und ringend um Worte wird versucht, jenen Textraum zu finden, um Ausdrücke zur Zuflucht zu nehmen, dem Unfassbaren Hand, Wände, Orte anzulegen. In rund 70 jener fragmentarischen Abschnitte mit Überschrift aufgeteilt, widmet sich der Text einem Bewusstseinsstrom, der zwischen Assoziation, Faktum, Traum und Erinnerung oszilliert. Sich dabei selbst hinterfragt, sich zu versichern sucht – was mache ich hier, warum dies und vor allem, warum das mir? In einfacher, wiewohl konzentrierter Sprache, die dem Leser dennoch nicht wenig abverlangt, wird durchaus sicher komponiert, das Drama in Form von Vorausblenden, Rückblicken, Meditationen und Parallelitäten vorgetragen. Ausgehend von einem ephemeren "Schneeböenbild", das wie eine Heimsuchung den Erzähler mahnend befallen hat, schält sich in jenem Oszillieren zwischen Fakt und Fühlen die Näherung an den Tod, den Verlust, das Zurückgebliebene in Einzelbildern ab. Auch schaltet Jackson einige intellektuelle Streifzüge zwischen, die in der Hauptsache einer Obsession für das (ebenfalls nur in Fragmenten erhaltene) Lehrgedicht des Parmenides über das Sein geschuldet sind. Nicht umsonst ist jener bedeutende griechische Philosoph aus der Zeit der sogenannten Vorsokratiker überhaupt einer der Begründer der westlich-philosophischen Seinslehre, der Ontologie, also in der Tat eine Art Fuhrmann oder Torgeist zwischen Sein und Nichtsein, (verstümmelte) Worte für jenes, über das menschliche Fassungsvermögen hinausgehende Denken von Leben und Tod schlagend. Ein nicht nur Geistesverwandter des Erzählers, dessen Begegnung mit dem Suizid ihn gleichsam an Parmenides' Worten/ Lippen kleben lässt, um Anhaltspunkte oder Trost durch synchrone Stimmungen zu finden, sondern auch um als ein Stichwortgeber innerhalb der Progression des Textes zu fungieren, der sich anscheinend einst ganz andere Dinge zu erzählen vorgenommen hatte, nun aber zu etwas anderem geworden ist und nicht zurück will. Immer wieder erwähnt werden auch Novalis und Dane Zajc, die als äußerste Gegenpole in ihrer Poetik empfunden werden und paradoxerweise doch dasselbe erreichen:
"ich beschwor: dagegenhalten, an Parmenides oder an Novalis denken, wie dieser an seine junge Liebe. jeden Tag, ohne abzulassen.
wenn mir des Bergwerkingenieurs Novalis' Schriften als der Inbegriff innerlicher Zustände erschien, als reine warme Innenwelten, und Dane Zajc hingegen als der Inbegriff einer Literatur, die an ein absolutes Außen, eine absolute Kälte stieß (und dies, das war das Verwunderliche, in zugleich Frösteln machenden sowie gerade Innerstes anklingen lassenden Bildern einfing), dann lag Parmenides doch irgendwo in einer Mitte, von der sich Schönheit nach beiden Seiten hin aufspannte."
Ein wesentlicher Hinweis auf die Komposition/ Methodik des Textes gibt er selbst in einer weiteren Referenz, diesmal auf einen Film: den skurrilen, einfallsreichen Science-Fiction Kurzfilm La Jetée von 1962 des bedeutenden Zelluloid-Avantgardisten Chris Marker, der eine Story aus Tod, Vision, Weiterleben und Zurückblicken erzählt, indem er lediglich stills beziehungsweise freeze frames verwendet. Das heißt auch, dass es diesen Film im Grunde nie gegeben hat, dass nur Fotos als Erinnerungen ans Drehen Zeugnis ablegen von der Existenz bzw. dem Verlust von La Jetée. Mit dieser Methode werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, und es ist die Strenge, fast Schroffheit von La Jetée, die Hendrik Jacksons sein gelassen abgeht, obwohl sich dessen rhythmische Vorgehen in der Struktur und die Geschichte um Tod und Erinnerung so gleichen. Sein gelassen ist getränkt von Empfindungen, die ohne je in unverständliche Sphären oder "Duseleien" abzugleiten, um Aufrichtigkeit bemüht sind. Sie lesen sich als behutsame und dichte, ungeschnittene Annäherungen an eine zwar persönliche Tragödie, doch ist der eingangs erwähnte, entworfene Textraum ein öffentlicher; Zugang gewährend, zulassend. Beklommenheit, auch Verstörung (nicht zuletzt durch die interessante und eigentümliche buchgestalterische Geste, anstelle der geraden Seitenzahlen, die vorhergehende, in diesem Sinne vergangene, ungerade Zahl, gespiegelt wie ein erinnertes Zerrbild, an die jeweilige Stelle zu rücken), aber stets Interesse am Fortkommen des Textes, sowie immer wieder, starkes Berührungsempfinden gehen von sein gelassen aus. Seine ganz eigene Notation – Satzanfänge werden konsequent kleingeschrieben, Kursivierungen und eingeschobene Zitate begleiten den Text – sorgt für ein überraschendes Fließen, einen fast spielerischen, der Lyrik nahestehenden Sog, der das schwere Thema eben nicht mit immanenter Schwere, sondern mit sprachlich gewandtem Wortsetzen und -komponieren sich ertastend vornimmt; ein traurig-schönes Buch.
"für die Ameise ist der Nieselregen ein Wolkenbruch, die Markisen meiner Wimpern krachen nieder. die Rotation um sich selbst erlaubt jeden Kitsch.
achtlose Momente, wenn man einen Türknauf zu lange festhält, an den falschen Stellen lacht. aber das macht nichts. Tage vergehen, zu Summen gerundet, es ist, wie Licht in Körben zu sammeln.
Duck-dich, neben dir verwischt das Wollige lachender Puppen.
[...]
es gibt diesen Menschen nicht mehr, weder sein Potential noch seine Möglichkeit, Einspruch zu erheben und befremdlich einzugreifen, aufzustören, sich zu verhalten. er lebt noch als mannigfaltige Projektion, die durch die Köpfe geistert. Rätsel mag es für Außenstehende geben, wie man aus dem Fenster schaut und Bäume sieht und sich fragt, wie dieses mit jenem zusammenkommt, warum gerade diese Krähe hier sitzt und solche, eigentlich seltsamen Rufe von sich gibt.
[...]
Stillstand, ein Hund neben dem Tischbein
der Selbstmord dieses mir unerfindlich zugleich nahen und fernen Menschen bringt auch mein eigenes Leben zu einem vorübergehenden Stillstand, er wölbt meine Lebenssphäre, beugt Zeit zum Kreis. nicht nur die nutzlose Frage, ob es nicht hätte anders kommen können, auch die Erinnerungen rasten immer wieder an denselben Stellen ein und eine mögliche Zukunft prallt von der rückwärts gerichteten Gegenwart ab, so steht die Zeit gleichsam.
[...]
dies seltsame Wort, vermeintlich allumfassend. jeder Versuch, es einzuschränken auf eine Lesart, eine treffliche Aussage, entfacht die Lektüre neu, eröffnet Wegstrecken. Legenden bilden sich, raschelndes Laub der Laute, Seite um Seite, die Wege der Tage verwehen, fallende Kalenderblätter. das Wort blättert mir die Tage auf – und umgekehrt.
[...]
die Imme glimmt am Ende
und jede Biene endet hier, mimt Wiederkehr, die große Zahl beginnt zu summen. nun müsste ich anfangen zu erzählen, wie alle Zeichen sich im Angesicht des Todes verwandelten [...]"
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