Der große Rock’n’Roll-Schwindel
Ian F. Svenonius hat Musikgeschichte geschrieben. Er war einer der wenigen Männer, die von Anfang an bei der riot grrrl-Bewegung mitgemischt haben, versorgte als Kopf hinter Bands wie Nation Of Ulysses den strukturell festgefahrenen Hardcore zu Beginn der Neunziger Jahre mittels einer Prise Jazz mit neuen Impulsen und erfand nebenbei das Genre Gospel Yeh-Yeh.
So wie sich jedoch die Mischung aus Garage Punk und Soul nicht wirklich als Musikstil etablieren konnte, so war auch Svenonius wenig Ruhm beschieden. Von seinen zahlreichen Projekten bleibt wohl Nation Of Ulysses am ehesten als die Band in Erinnerung, deren Visionen Jahre später von kommerziell erfolgreicheren Bands wie Refused aufgegriffen wurden. Svenonius ist seit jeher ein musician’s musician, anscheinend dazu verdammt, auf ewig der Typ, der die Lieblingsband der Lieblingsband gegründet hat, zu bleiben.
Ja, Ian F. Svenonius hat Musikgeschichte geschrieben, es haben sie aber zu wenige Menschen gelesen. Bis jetzt. Denn mit 22 Strategien für die erfolgreiche Gründung einer Rockband liefert er eine ganz eigene Geschichtsschreibung des Rock’n’Roll ab. In der kommt er zwar nicht vor, und doch sickern die Exaltiertheit und die Konzeptionen hinter Svenonius eigenen musikalischen Unterfangen jedes einzelne Wort. Ohne, dass er sich selbst oder seine ambitionierten Appelle zum Neudenken altbekannter Stile auch nur ein einziges Mal erwähnen würde, versteht sich.
Chain And The Gang heißt beispielsweise sein neuestes Projekt. Was sich wie eine gewitzte Zusammenschleifung von Kool And The Gang und dem englischen Begriff chain gang, der zum Zwecke der Bestrafung oder aber Wiedereingliederung aneinander gekettete Sträflinge bezeichnet, liest, hat bei Svenonius einen theoretischen Hintergrund. Auf knapp 300 Seiten wird der gebürtige Washingtoner nicht müde, auf den Ursprung der Gruppe – ein Kofferwort aus gang und Truppe, wie er selbst argumentiert – im halb-organisierten, nahezu paramilitärisch organisierten Verbrechen zu verorten. Von den Straßengangs über die Doo-Wop-Ensembles bis hin zu den Stadien füllenden Bands wie The Beatles oder Rolling Stones lässt sich, so Svenonius, eine Tradition nachvollziehen.
Obwohl er das natürlich alles nicht selbst schreibt, sondern auch hier bescheiden im Zwielicht verharrt. Denn obwohl 22 Strategien für die erfolgreiche Gründung einer Rockband gleichermaßen als Aufarbeitung der Rockgeschichte und ihrer Typologie fungiert, so liest sich diese doch ebenso verquer und polyphon, wie die Musik von Svenonius‘ Bands klingt. Anstatt wie etwa Karl Bruckmaier oder aber Diedrich Diederichsen, deren Thesen erstaunlich oft bei Svenonius gespiegelt werden, seinen Stoff essayistisch aufzuarbeiten, lädt er die Rockstars zum Gespräch. Am häufigsten die toten, klar.
Über einige Séancen hinweg kommunizieren unter anderem das Rolling Stones-Gründungsmitglied Brian Jones, Jimi Hendrix oder Little Richard mittels Lichtreflexen, kalten Spaghetti oder Salzstreuern mit den eifrigen Medien, die Svenonius um sich geschart hat. Die wiederum zeichnen beherzt die Weisheiten der verstorbenen Legenden auf. Sind die erstaunlich eloquenten – von den meisten dieser Stifterfiguren wären eher ein alkoholisiertes Rülpsen denn profunde Ausführungen zu erwarten gewesen – Dialoge erst mal niedergelegt, geht es gleich mit einem kollektiv verfassten Buch weiter, in dem die ruhmreichen Geister ihre Strategien im Einzelnen niederlegen. Um die Wahl des Bandnamens geht es dort ebenso wie um den richtigen Todeszeitpunkt, kapitalistische Verwicklungen, bandinterne Kommunikation und den tief in der Rock-Mythologie verankerten Sexismus.
Die selbsternannten »Pflichtlektüre«, die – »von Kochshows inspiriert« – ihrer Leserschaft nicht nur das Wesen des Rock’n’Roll beibringen, sondern zuvorderst nach dem Baukastensystem bei der Gründung einer Rockband behilflich sein soll, ist einerseits wahnsinnig komisch, andererseits gerissen-subversiv in ihrem Vorgehen. Denn wie liebevoll der große Rock’n’Roll-Schwindel von Svenonius auch inszeniert wird, so leugnet er doch weder die dem Genre inhärenten Ausgrenzungs- und Ausbeutungsmechanismen wie auch dessen Stagnation. Anno 2014 sieht es, und das wird auch Svenonius wissen, eher schlecht um den Rock’n’Roll aus. Neben den alten Dinosauriern wie U2 oder den Rolling Stones, seit Jahrzehnten nur mehr Schatten ihrer selbst, ist wenig Platz für Neues. Dafür aber haben wir ja immer noch Ian F. Svenonius, der als Musiker unermüdlich das Rad weiterdrehen wird. Hoffentlich werden ihm in Zukunft mehr Menschen dabei zuhören.
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