Das Dasein ist keine Entschuldigung für das Dasein
Mit der Veröffentlichung der Tagebücher der Jahre 1991 bis 2001 ist eine Lücke im autobiografischen Schaffen des Imre Kertész geschlossen. Die Notizen 2001 bis 2009 waren unter dem Titel „Letzte Einkehr“ bereits 2013 erschienen. Vorangegangen war die „Selbstdokumentation“ im „Galeerentagebuch“, welche die Jahre 1961 bis 1991 abdeckt. Flankiert werden die Tagebücher von dem grandiosen Gesprächsband „Dossier K. Eine Ermittlung“ (2006), in dem Kertész seinem ungarischen Lektor und Freund Zoltán Hafner Rede und Antwort steht. Und in „Ich – ein anderer“ dokumentiert der Autor die fünf Jahre nach Ende des Kalten Krieges, als er Europa – und Europa ihn – entdeckte, und er rastlos die Städte und Regionen bereiste, die ihm bis dato verschlossen geblieben waren. Die Zeitspanne der vorliegenden Notate überschneidet sich somit in Teilen mit der von „Ich – ein anderer“.
Kertész’ Aufzeichnungen verfolgen so gut wie nie den Zweck der reinen Dokumentation; sie sind vielmehr eine kritische Selbstbetrachtung, in der das eigene Denken und Urteilen immer wieder auf den Prüfstand gestellt wird. Eitles Geschwätz, Selbstgerechtigkeit und Räsonieren über die eigene Bedeutung (oder Bedeutungslosigkeit) sind ihm fremd. Darin unterscheidet er sich wohltuend von etlichen seiner Kollegen, deren Tagebücher und Memoiren zuvorderst dem Zweck dienen, Denkmalpflege in eigener Sache zu betreiben. Man denke nur an das vor Pathos triefende „Zwiebelhäuten“ eines Günter Grass, dem im Rückblick auf die Tage unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges nichts Besseres in den Sinn gekommen war, als darüber zu sinnieren, ob er da vielleicht mit einem künftigen Pontifex Maximus in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gesessen haben könnte.
Aus dem Alltag des Imre Kertész erfährt der Leser nur wenig; abgesehen von einige Reisen, nach Paris, Israel und immer wieder in die spätere Wahlheimat Berlin, etwa in Folge der deutschen Ausgabe des „Roman eines Schicksallosen“. (Die deutsche Erstausgabe des Buches erschien 1996 bei Rowohlt, knapp 20 Jahre nach dem ungarischen Original. Eine nur wenig beachtete Ausgabe mit dem Titel „Mensch ohne Schicksal“ war bereits 1990 im Verlag Rütten & Loening veröffentlicht worden.)
Die Jahre 1991 bis 2001 sind nicht zuletzt die Dekade, in der aus dem im Westen bis dato praktisch unbekannten Autor ein – wie er selbst immer wieder mit spöttischem Wohlwollen betont – Verfasser von „Weltliteratur“ wurde. Dass ihm dieser Rang zusteht, daran lässt Kertész bei aller Bescheidenheit keinen Zweifel aufkommen. Verwundert zeigt er sich eher darüber, dass ihn der Ruhm erst so spät ereilt hat.
Vier wiederkehrende Motive lassen sich in den Betrachtungen der Jahre 1991 bis 2001 ausmachen: Das Nachdenken über Ungarn und die Literatur, über den Tod bzw. die menschliche Vergänglichkeit – Kertész stand 1991-2001 im siebten Lebensjahrzehnt –, sowie das Lebensthema des Autors, Auschwitz und der Holocaust.
Die politischen Entwicklungen in Ungarn nach Ende des Kalten Krieges betrachtet Kertész mit Unbehagen, und, wie man rückblickend konstatieren muss, großer Hellsicht. Er prangert den wachsenden und zum Teil offen zur Schau getragenen Antisemitismus in der Gesellschaft an. Und er leidet unter der ungebrochenen Blockwartmentalität in Politik und Administration, welche sich als beständiger als der Wandel erweist, wenngleich nunmehr gehüllt ins Deckmäntelchen von „Volk“ und „Nation“. Den „Doktor Faustus“ zitierend stellt er fest, dass man die Menge nur als „Volk“ anreden müsse, um allerlei „Rückständig-Böses“ in ihr hervorzubringen. Eine Erkenntnis, die seither an Aktualität weiter zugenommen hat, nicht nur im Ungarn eines Viktor Orbán. Für Kertész jedenfalls hat Ungarn schon lange aufgehört, Heimat zu sein. Sich selbst bezeichnet er als einen „vorübergehend“ in Budapest ansässigen „westlichen Schriftsteller“, dessen Platz „vollkommen offensichtlich“ nicht mehr die ungarische Literatur ist. Das Budapest der neunziger Jahre erinnert ihn an ein „Höllenbild“ des Hieronymus Bosch.
Auch Lektüreeindrücke werden notiert, wobei der Kanon recht klar umrissen ist: Kafka und Camus bewundert Kertész, ebenso Thomas Mann. Zu ihnen greift er immer wieder, als Orientierung und auch als Bestätigung des eigenen Schaffens und Denkens. Von Max Frisch gefällt ihm Montauk besser als die großen Romane. Und zu seinem Landsmann Sándor Márai fühlt er sich als Romancier hingezogen; den späten Tagebüchern hingegen konstatiert er, dass ihnen die „existenzielle Erregung“ abhandengekommen sei – stattdessen habe Márai darin die „schrecklichste Verhängnis erreicht: die Altersweisheit.“ Auf die Zuerkennung des Nobelpreises, so Kertész, habe nur Camus richtig reagiert: er sei monatelang erkrankt. „Die einzige gesunde Reaktionen auf einen derartigen Einschlag.“
Dem Tod blickt Kertész gelassen entgegen. Er spricht von „Neugier“. Der Gedanke daran gehe „mit einem schubartigen Gefühl der Freiheit einher“. Dabei ist aber nicht Schwermut das dominierende Motiv, sondern das Wissen darum, den eigenen Beitrag geleistet zu haben, ohne sich dessen brüsten zu müssen. Der späte Ruhm und das Interesse der Mitmenschen sprechen für sich und müssen nicht zelebriert werden. Was jetzt noch kommt, ist Zugabe, die man auf sich nimmt und bisweilen gerne auskostet. Bedauern und Scham beim Blick zurück gibt es lediglich im Privaten. Beim Gedanken an die Mutter, deren Leben und Sterben man nicht in der Weise begleitet hat, wie man das hätte tun sollen; und an die erste Frau, deren Liebe gerne entgegengenommen, aber viel zu selten erwidert wurde.
Dass in der Gedenkstätte Buchenwald heute ein Porträt von Kertész gezeigt wird, würde er selbst vermutlich als Zufall bezeichnen. Der Fügung geschuldet, dass er im Gegensatz zu unzähligen anderen die Vernichtungsmaschinerie der Nazis überlebt hat. Sein gesamtes Werk ist von der Erinnerung daran durchdrungen. Und auch in den Betrachtungen der Jahre 1991 bis 2001 ist Ausschwitz allgegenwärtig. Ausschwitz habe ihm die „Außerordentlichkeit und Einzigartigkeit“ des Lebens offenbart. Daher müsse er letztlich dankbar dafür sein, es erlebt zu haben, als eine „Offenbarung und Manifestation“. Was damit gemeint sein könnte, lässt sich erahnen, wenn Kertész an anderer Stelle die gedankliche Trennung von Ausschwitz und Hitler anmahnt. „Hitler mag das Produkt eines historischen Augenblicks sein, in Ausschwitz aber offenbart sich die menschliche Natur, so wie andererseits in der Musik oder den Religionen“. Steven Spielberg, der Auschwitz in ein Disneyland verwandelt habe, stellt er auf Stufe mit Holocaust-Leugnern. Mit dem Unterschied, dass die Leugner verklagt werden, während Spielberg „sehr sehr viel Geld damit verdient“.
Der Mensch ist vergänglich, was am Ende von ihm bleibt, sind einige wenige Werke der Kunst und Literatur, heißt es an einer Stelle. Imre Kertész gehört zu den wenigen, die sich diesem illustren Kreis zurechnen dürfen.
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