Realien zum Mythengeflecht
Jeder, der auch nur ein wenig Interesse für Literatur hat, kennt wohl Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori oder Edgar Hilsenrath – und darum auch das Czernowitz, das sie mehr oder minder prägte. Allerdings ist Czernowitz (wie auch die Bukowina, die die Miniaturmetropole umgibt) zugleich teils noch immer unbekannt, und zwar unter anderem bezüglich der Traditionen, der lokalen Literaur, kurzum: all dessen, was Celan und andere prägte, sieht man von den Einflüssen ab, die Czernowitz von außen bot: als weltoffene, nach Wien und Paris orientierte Kleinstadt.
Dem wurde in den letzten Jahren Abhilfe zu schaffen begonnen. So wurden die Mythen über Czernowitz diskursanalytisch durchsucht (u.a. von Menninghaus, Corbea-Hoisie und Klaus Werner[1]) und Anthologien der Landschaft erstellt, etwa jene feine von Klaus Werner[2], die umfänglichere von Amy Colin[3] und schließlich die Rekonstruktion der Buche[4]; man begann auch neue Narrative zu erproben.[5] Und natürlich ging man daran, Details der kulturellen Landschaft zu rekonstruieren, eine teils schlicht positivistisch Archivarbeit, worunter neben laufenden Projekten (etwa zu den Zeitungen in Czernowitz[6]) vor allem auch Lihacius Buch als Großtat zu rechnen ist.
Lihaciu ist Philologe und Historiker mit schon mehrfach bewiesenem Gespür und genauer Kenntnis, was jene Landschaft betrifft – und ihm ist sehr zu danken, daß er nun Fakten gesammelt überzeugend präsentiert, die umreißen, worauf die Großen jener Stadt aufbauten, was aber teils auch für sich überaus spannend ist. Lebensläufe und Karrieren, Texte und Kontexte, Institutionen und Intuitionen ergeben ein Bild von der städtischen Kultur und ihren (teils: genuinen) Funktionen. Dabei zeichnet die Studie aus, sine ira et studio die Faktenlage zu zeichnen – und wer ob dieser Herangehensweise, die eben nicht zuviel erklärt, Vorwegnahmen nicht in das Gefundene hineinliest und insgesamt keine Spekulation sich erlaubt, böswillig hinzusetzt: sine inspriratione, der irrt darum.
Vielleicht würde man sich manchmal wünschen, daß der Verfasser mehr gewagt hätte, zumal schon die Erwähnung und das Zumessen einer gewissen Ausführlichkeit bei den Autoren implizit ja Wertung oder zumindest Deutung ist; doch insagesamt ist diese konzeptuelle Nüchternheit sehr lobenswert und das Werk eine wertvolle Handreichung, die aus einer ergiebigen Perspektive und klaren Methodik oftmals Interessantes zu Czernowitz zu sagen weiß.
So ist dieses Buch (trotz des einen oder anderen lapsus clavis, was das Vertrauen in Zitate vielleicht nicht erhöht, aber den Gesamteindruck auch nicht allzu schmälert) sehr zu empfehlen: Czernowitz-Interessierten vor allem; aber nicht nur ihnen.
[1]cf. Winfried Menninghaus: »Czernowitz/Bukowina« als literarischer Topos deutsch-jüdischer Geschichte
und Literatur. In: Merkur, Nr 600, März/April 1999, S.345-357, ferner http://edocs.fu-berlin.de/docs/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDOCS_deriva..., passim
[2]Fäden ins Nichts gespannt. Deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina, hrsg.v. Klaus Werner
Frankfurt/M., Leipzig: Insel Verlag 1991 (=Insel-Bücherei, Nr 1097)
[3]Versunkene Dichtung der Bukowina. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik,
hrsg.v. Amy Colin u. Alfred Kittner
München: Wilhelm Fink Verlag 1994
[4]cf. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13434, passim
[5]cf. etwa Andrei Corbea-Hoisie: Czernowitz. Bilder einer jüdischen Geschichte.
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