Ein Gedicht findet statt
Ein Gedicht findet statt wie eine Träne stattfindet oder ein Kuss - in der Architektur des Augenblicks. Und der Dichter ist nicht der Architekt, sondern der Leser eines verborgenen Bauplans, der ihm aufscheint wie von Geisterhand geschrieben. Er ist auch der Maurer, der mit Lot, Stein und Mörtel errichtet, was es zu sagen gibt über das Wesen der Sache, die vor ihm liegt. Das zu schreibende, das ins Leben drängende Gedicht hat sein Geheimnis nicht in der Form allein, sondern vor allem auch in den eigenen Räumen, in dem die Worte zu Sätzen werden, zu Versen, die herkömmlichen Sinn und Wahrheit opfern einer neuen, zuvor nicht erkennbaren Zwiesprache der Dinge.
Ivo Ledergerber, Schweizer Schriftsteller des Jahrgang 1939, reist nach Tunesien um an einem Lyrikkongress teilzunehmen, obgleich ihm auf gepackten Koffern mitgeteilt wurde, dieser fände nicht statt. Er bezieht Quartier in einem alten Prunkhotel, als Gast des Dichters Abdelkrim El Khalki. Hier erreicht die beiden die Nachricht, in der Küstenstadt Annaba, im Nordosten Algeriens, finde der Kongress nun doch statt. Eine abenteuerliche, nächtliche Taxifahrt bringt sie ans Ziel.
Findet statt.
Findet nicht statt.
Findet nicht statt. Findet statt.
Das sind schon erste Zeilen eines Gedichtes, sie sind dem Innentitel des Buches vorangestellt, und sie sind deshalb Gedicht, weil sie über mehr berichten, als über das Kuddelmuddel um ein Festival der Poesie. Es hat zu tun mit einem prinzipiellen Mangel an Allgemein- und Endgültigkeit, wie er so nur im nordafrikanischen Maghreb vorkommt. „Ihr sucht immer nach Gründen“ sagen dort die Menschen zu Ledergerber (im Gedicht „Musée du Bardo“) und meinen damit: wir nicht, wir haben so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt.
Ledergerber malt nicht drauflos, Augenblicke werden sehr genau ausgebreitet und er stellt Fragen dort hinein, die eine zeitlose Poesie fordern. Er nimmt wahr, was die Wahrhaftigkeit des Dichters fordert: Zusammenhänge, die im Hintergrund verborgen sind und erst im poetischen Spiel einen Namen finden. In seiner Betrachtung wird neben den alltäglichen Dingen das Nichtalltägliche sichtbar. Man muß das Auge einjustieren auf einen anderen, einen gelassenen Blick und in der Unterscheidung zwischen Sagbarem und Unsagbarem wankelmütig werden. Man muß aus dem Sagbaren das Geheimnisvolle und aus dem Unsagbaren das Wirkliche werden lassen und zusehen, wie es zu einer Entscheidung kommt: im Wortlaut des Gedichts.
Pause
Das Wort ist gesagt
die Erde hat sich halb gedreht
der Mond kann warten
vielleicht treffen wir
auf den Mars
und reden
stumm
weiter
Ledergerber ordnet die Gedichte in der Abfolge seiner Reise und spürbar vertiefen sich seine Beziehungen. Der Stillstand der Zeit im Maghreb schlägt sich ebenso in seinen Gedichten nieder, wie der Zwiespalt, der einem westlichen Beobachter das Herz umrührt: einerseits die Verzauberung von dieser alten reichen Kultur und andererseits die Irritationen durch eine ganz andere, sehr patriarchalische Ethik. „Als wäre Pest im Land / gehen Frauen tief verschleiert“.
Algerien ist kein freies Land, aber was auf den Ebenen des Alltags geschieht, ist ein Schauspiel alter und ältester Sprachen. Es ist, als wandelte man durch ein Reich der Archetypen - so ist auch der Dichter im Maghreb ein angesehener Mann, der nah an der Weisheit lebt und zuständig ist für höheren Sinn (und kein Kauz oder geduldeter Spinner, wie das bei uns oft noch so ist). „Jeder Dichter / ein Lehrer“ heißt es, „Poeten / genügt / etwas Leere / für / eine Zeile / etwas / Stille / für einen Satz“. Das Festival schreitet voran und Ledergerber pendelt zwischen Veranstaltung und dem Place des Armes. In seinen Gedichten spannt sich der Bogen. Wunderbare Schilderungen, stille und laute Bilder. Spannung, die sich erst zuhause auflöst, wenn Fremdheit und das Arrangement mit den besonderen Umständen sich auflösen und zusammenfassen lassen in dem Wissen, man hat nur eine besondere Seite der Dinge gesehen, die Seite, deren Sprache man verstand, verstehen konnte.
Der Band von Ivo Ledergerber, in dem die Gedichte zweisprachig - französisch und deutsch - vorliegen, findet durch seine Klarheit und seine undramatische Augenblickspräsenz unangestrengt ein Echo in mir, das leicht melancholisch färbt. Aber das mag ich. Wenn einer bei sich bleibt und trotzdem Welt ist. Wenn vom Leben gewusst wird, dass es gelebt werden will. Wenn einer erzählt und sein Maß halten kann, weil es kein erfundenes ist.
Am Ende des Buches sind als Gastspiele drei Gedichte versammelt, die Ledergerber als Souvenir mitgebracht hat: von Abdel El Khalki, Carolina Francis und von Nouar Abidi (dessen Gedicht „Stein Stein“ allein eine wertvolle Entdeckung ist), mit denen er eine lebendige Abrundung der Geschichte erzielt. Etwas ist übrig geblieben. Gedichte bleiben und sind übrig.
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