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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Das Modell

Ein kurzer, gemessener Roman über künstlerische Eifersucht
Hamburg

Langsam und melancholisch, präzise und knapp. Das fällt einem bei Jan Kuhlbrodts neuem Roman „Das Modell“ ein. Nachdem Kuhlbrodt zuvor bei verschiedenen Verlagen (u.a. Plöttner, Gustav Kiepenheuer und Verlagshaus Berlin) Verschiedenes (u.a. Lyrik, Romane und Prosa) veröffentlicht hat und seit Langem als nimmermüder Rezensent, Redakteur, Herausgeber und Internetaktivist von sich reden macht, erscheint nun in dem verdienten Hamburger Verlag Edition Nautilus sein schmales Buch mit dem verregneten Cover. Nicht von ungefähr weckt das Titelfoto mit den verzerrenden, unscharfen Regentropfen Assoziationen an die (Film-) Bilderwelten eines Michelangelo Antonioni, der mit Vorliebe stagnierende Menschen in stagnierten Landschaften porträtiert hat. Das tut Kuhlbrodt auch. In einem Frankfurt der postindustriellen Brachflächen geschieht neben den Gedanken der Hauptfigur Schroth eigentlich nichts, außer dass eine Stahlskulptur umgekippt und ihr Schöpfer – Schroths alter Freund/Rivale in der Kunst Thilo – dabei möglicherweise tödlich verletzt worden ist. Wie in „Deserto Rosso“ von eben Antonioni, bei dem das Grau aus Staffage und (Un-) Räumen durchstreift wird, bis die Protagonisten knallrote Flächenlandschaften betreten (ein stetes Abbild ihrer psychischen Verwerfungen), gibt es in „Das Modell“ dieses anziehende Punktum der Skulptur, die man sich unweigerlich als vernietet-verschweißten, farbigen und komplexen Fixpunkt inmitten der einfarbig grauen oder wiesengrünen Romanräume vorstellt.

Thilos Skulpturen kann man nicht bemalen, höchstens behängen, beklecksen, zerstören. Und in den verchromten Rundstählen spiegelt sich die Welt. Aber sie spiegelt sich nicht wider, wird nicht zum Abbild. Das, was sich in den glänzenden und gewölbten Oberflächen fängt, ist derart verzerrt, dass man es beim besten Willen nicht mehr erkennen kann. Und dieser Umstand verleiht den Skulpturen ihre Leichtigkeit und Dynamik, die (zugegeben) das Statische der Gegend noch verstärken (...) Neben Thilos Skulpturen gibt es nur Erosion und Verfall.

Von der Skulptur geht die Gefahr aus, es wird sogar behauptet, der grandios unzufriedene Elfenbeinturmbewohner Schroth habe sie möglicherweise manipuliert, damit sie auf seinen Rivalen und Beneideten falle. Die Konstellation aus solcherlei Unschärfen, visuell wie psychisch, erinnert an einen weiteren Antonioni-Klassiker, „Blow-up“, und genauso wie dort, comme-il-faut, wird diese Andeutung von Plot nicht aufgelöst. Es geht Kuhlbrodt um etwas anderes. Es geht ihm darum, aus Erinnerungen und Konkreta, sowie den äußerst nerdigen Plänen des Protagonisten Schroth so etwas wie Gefühls-Karteikartensysteme anzulegen (lieber das, als sie auszuleben), eine Philosophie der Dauer und des Bleibens zu konstruieren, und das hochgradige Verdrängen der eigenen Unzulänglichkeit abzubilden, Trauer und Selbstmitleid angesichts des ungleich erfolgreicheren Freundes nicht in eigene, produktive Energien umzuwandeln zu können. Schroth definiert sich derart über die Erfahrungen und Vita seines Rivalen Thilo, dass er praktisch vergisst, selbst zu leben und sich stattdessen darauf verlegt, Erlebtes und Erinnertes zu rekonstruieren, zu ordnen und ins Abstrakte auszuweiten. Damit wird die Zeit zugebracht. Darin liegt seine persönliche, traurige Stagnation, und der Leser verfolgt Schroths melancholisches Wiederkauen der Vergangenheit.

Manchmal, wenn Thilo mir allzu schnell voran schritt, habe ich gehofft, derweil ich außer Puste war, er hielte inne, drehte sich um und schaute, wo ich geblieben wäre. Aufmunternde Worte habe ich mir gewünscht (…) Und Thilo hat sich ja auch nicht umgedreht, höchstens einmal kurz über seine Schulter geblickt.
Wahrscheinlich war mein Zurückbleiben nicht der Anlass für diesen Schulterblick, und er hat nur versucht, seine Nackenmuskulatur ein wenig zu lockern, die durch das langwährende starre Geradeausschauen verspannt war. Ich habe gehofft, habe glauben wollen, er warte auf mich. Aber warten war seine Sache nicht.

Während Thilo seinen (künstlerischen) Weg kennt, schaut Schroth in dessen Fußstapfen und versucht sich in ihnen einen Stand zu errichten, der wiederum hauptsächlich nur Thilo voranbringt.

Lies das, sagte er.

Und ich las und exzerpierte, während er Schweißdraht in Form brachte, und als ich Thilo nach einigen Tagen darauf ansprach, mich mit ihm verständigen wollte, fragte er nur: Und? Taugt‘s was?

Ich zitierte (…) Thilo hörte mir zu und nickte.

Und darüber, über dieses Nicken, meinte ich, meinen Platz gefunden zu haben. Thilo würde produzieren und ich seine Produktion theoretisch untermauern (…) Durch mich würde Thilo zu wirken beginnen.

Und später die reifende Erkenntnis, nachdem Thilo aufbricht und Schroth zurücklässt:

Vor mir sah ich, was hinter mir lag. Und ich war ein Hinzugekommener, ein Dahergelaufener, wie ich die anderen manchmal sagen hörte. Das machte mir nichts. Es bestätigte mich nur in dem, was ich vorhatte: Ich würde geduldig in Frankfurt bleiben und studieren und auf Thilos Rückkehr warten, denn wir seien, so sagte er, nach seiner Rückkehr ein unschlagbares Team. Ich wollte vorbereitet sein, und ich wäre vorbereitet gewesen.

Thilo verschwindet zusehends ganz und Schroth wendet sich dem geistigen Einmauern zu. Er schreibt Diplom- und Doktorarbeiten, letztere scheitert, und beschäftigt sich in ihnen, mehr oder weniger als sein Lebenselixier, mit dem Problem des Lebensgangs. Sein Dissertationsthema „Biografie und Erkenntnis“ bringt es auf den Punkt - den Drang nach Sinn im Sein. Er forscht zu seinem Vater, seiner eigenen Kindheit in der DDR, seinem Großvater und dessen Leben in der NS-Zeit, betrinkt sich mit seinem Studienkollegen Zassi, arbeitet als Fensterputzer. Dabei verliert er im Verlauf auch Ehrgeiz wie Boden, sodass er zu jenem reflektierenden Erzähler werden kann, durch dessen behutsame Sprache Kuhlbrodt die Dinge des Lebens passieren lässt.

Das Tempo des kurzen Romans ist langsam und gemessen, und bisweilen droht der Strom der Worte fleischlos und abstrakt zu werden, aber Kuhlbrodt schafft es immer wieder, überraschend frische Szenen- und Ortswechsel einzubauen – wie etwa eine außerordentlich komische Zassi-Situation mit Bar und After-Bar-Verhalten:

Jedes Mal trank Zassi sein Getränk mit einer strammen Bewegung aus, und ich wollte ihm nicht nachstehen. Es war die Art, wie man hier trank. Kurze Bewegungen, sparsam und effizient.

Hinter unserem Rücken wieherte in unregelmäßigen Abständen ein ausgestopftes Pferd. Ich drehte mich jedes Mal um, wenn ich es hörte, und blickte in die braunen gläsernen Augen des Tieres.

Wir hatten viel zu viel getrunken, und Zassi schlug vor zum Abschluss noch in die Entlüftungsanlage des FAZ-Neubaus zu pissen (…)

Zassi schritt rasch voran (…) Ich bin doch kein Hund, rief ich ihm nach und folgte ihm doch. Zassi schüttelte den Kopf. Du begreifst gar nichts.

Gegen Ende der schon früh vorweggenommene Showdown: die Rückkehr des erfolgreichen Thilo und die (vermutliche) Rache Schroths, die Manipulation der Skulptur. Der Roman faded filmisch gewissermaßen aus, während Schroth wieder bei seiner Mutter eingezogen ist und herauszufinden versucht, ob Thilo seinen Verletzungen erlegen ist. Eine der vielen starken visuell-philosophischen Stellen dieses melancholischen, lesenswerten Nicht-Künstler- und Entwicklungsromans beschreibt das Wirken von Farbe, das wie eben bei Antonioni und anderen bildhaft arbeitenden Erzählern den sinnlichen Kern des Settings und der Verortung von Erinnerungsarbeit ausmacht:

Warum ist die Farbe zum Schutz vor Erosion und Zerfall die gleiche wie die von Erosion und Zerfall? Als ob Rost etwas Beseeltes wäre. Das davor zurückschreckt, sich selbst zu begegnen. Als ob Rost ein schlechte Gewissen hätte aufgrund seiner Zerstörungskraft. Und das Wort Reaktion gibt diesem chemischen Prozess etwas sehr Empathisches.

Jan Kuhlbrodt
Das Modell
Edition Nautilus
2016 · 112 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-96054-014-4

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