Der Käfig der Schrift
Der Fluss der Gedanken, der Flug der Gedanken. Metaphern, denen man sich überlassen kann, im Garten, im Beobachten der Vögel, die über einem kreisen. Öffnet man den Käfig, wenn man nun Stift und Block zur Hand nähme, diese Eindrücke zu fangen? Vom Beobachten ins Sprechen ins Schreiben zu gelangen – und wieder zurück. Diese Frage stellt sich Jan Kuhlbrodt, mit seinem Langgedicht Stötzers Lied – Gesang vom Leben danach. Die Offenheit ins Weite hinein, wie Vögel über einem tanzen, sie versucht er immer wieder aus seinem Text heraus zu entfalten, einem Text, der von der Urbanität, der Geschichte, der drückenden Alltäglichkeit geprägt ist.
Stötzer lebt in Leipzig, wie sein Autor, und mit ihm zieht der Erzähler durch die Stadt, vom Völkerschlachtdenkmal zum alten Messegelände, zur Deutschen Bücherei, in die Außenbezirke, durchs Zentrum, bis hin zum sandgestrahlten, in die Nacht geleuchteten Bundesverwaltungsgericht. Sauber, konform, pragmatisch, so gibt sich die neue Ordnung, Wirtschaftlichkeit. Ein Betrug, so scheint es. Stötzer – das war einmal ein Professor gleichen Namens, bei dem Jan Kuhlbrodt in Leipzig politische Ökonomie studierte, in den achtziger Jahren. Die Figur Stötzer ist nicht nur Erinnerung, sie ist der Inbegriff des was wäre wenn? Der offenen Frage an die Gegenwart. Kuhlbrodt betrachtet sich selbst als ‚Aufklärer’, aber als einer, der, wie er sagt, „der Aufklärung misstraut.“ Der festen Form, der Anweisung, Definition. Er möchte ins Freie sehen. Und so führt der Erzähler Stötzer einmal auf den Venusberg, ein langer Weg, den nur sie zu Fuß gehen, eine Neubausiedlung, ‚passgerecht’, wie es im Text heißt, für Autos und Appartements, Blöcke der Sesshaftigkeit: Käfige der Schrift. Kuhlbrodt bewegt sich auf zwei Arten entlang der Festschreibung: Er versucht sie zu umgehen, indem er mäandert – und er versucht mit ihr zu brechen, in der Schrift. Das Mäandern führt in eine Mischung aus Lyrik und Prosa, wenn es in dem Text Deutscher Platz etwa heißt: „Ich war überrascht, als ich ihn kürzlich hier traf;/ weil das Beständige ihm ein Ärgernis ist,/ hätte sich Anblick des Platzes für ihn über die Jahre/ abnutzen müssen; die Flucht hinaus zum Völkerschlachtdenkmal (…).“ Die verkürzte Andeutung vom ‚Anblick des Platzes’, im Satzgefüge, das An- und Absetzen als Übergang eines Gedankens, der assoziierende Ton, all das trägt die Beschreibungen von Stötzer. Zugleich gibt es eine andere Ebene von Texten, Embolien genannt, nach der antiken Form im Theater, mit der Ruhepausen vom Geschehen bezeichnet sind, kurze Einlagen zur Ablenkung vom Gezeigten, zur Abwechslung, Erfrischung. Sechs Embolien stehen im Text, Szenenwechsel, als Vertiefungen der Reflexion vor allem, Situationsbestimmungen der eigenen, deutschen Geschichte – also kein Zeitvertreib, eher Kulmination, Verdichtung.
Hinzu kommt als dritte Ebene eine Welt aus Tuschezeichnungen und Schwarz-Weiß-Collagen von der Künstlerin Ivonne Dippmann, wie Jan Kuhlbrodt einst in Karl-Marx-Stadt, sprich Chemnitz, geboren. Gestalten einer holzschnittartigen Anatomie, Landschaften abstrakter Ablagerungen, am Rande nur mit einem Wort versehen – ‚vogelfrei’ – wechseln sich ab mit den Texten, verbunden in der grafischen Gestaltung von Andrea Schmidt, in drei Schrifttypen, so dass bereits optisch sowohl die Unterschiede zwischen Stötzers Betrachtungen und den Ebolien hervortritt als auch durch stärkere und schwächere Querbalken über den Texten eine Wechselbeziehung entsteht.
Es ist – wie so viele Bände im Berliner Verlagshaus J. Frank – ein überaus sorgfältig und geschmackvoll herausgegebenes Buch, und dabei zu einem erschwinglichen Preis. Der Käfig der Schrift ist die Bedingung dafür, das Denken von der eigenen Person zu lösen, mitteilbar zu machen, über einen selbst hinaus. Er befreit die eigenen Worte, für andere. Und sie sind eingeladen, den Käfig für sich zu öffnen, die Texte und Bilder, um selbst nach der Lektüre im Park, im Garten zu sitzen und den Flugbewegungen nachzuschauen. Stötzers Lied ist ein Requiem, ein, wie es im Untertitel heißt, Gesang vom Leben danach. Der Gesang bleibt nur in den Büchern, in ihrer Lektüre. Doch er ist nicht stumm. Er zieht Bahnen.
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