Slammende Einhörner mit Assoziationstentakeln
Ausgezeichnet mit dem Clemens Brentano Preis 2017
Wie lange es dauern kann, ein paar vermeintlich schnelle Geschichten zu schreiben und vorzulegen, führte kürzlich der Tübinger Autor Jan Snela vor: bereits 2010 gewann er mit der Titelstory seines Erzählungsbandes "Milchgesicht" den open mike in Berlin. Ganz offenbar mit bewundernswerter Zähigkeit und Akribie hat Snela seither an den rund einhundertachtzig Seiten respektive zehn Texten gearbeitet und dabei etwas geschafft, das nur wenige Autoren bei der Premiere ihres Erstlingswerkes von sich behaupten können: er bringt bereits einen konsequenten Stil mit, mehr noch: eine fast perfekt abgestimmte Gesamtkomposition, die sich fein austarierter Ingredienzien aus den literarischen Schulen von Kafka bis Kling und von Barock bis Pop Art bedient.
Seine Sprache balanciert spielerisch auf dem Grat zwischen Ironie und tiefgründiger Traurigkeit, seine Szenarien kommen meist aus Alltagssituationen, die im Laufe der Handlung wie selbstverständlich immer mehr ins Phantastische, Surreale umschlagen. Seine Protagonisten sind eher im Heer der Verlierer anzusiedeln, ihre oft altertümelnde Ausdrucksweise überhöht unangemessen ihre Stellung in der erfundenen literarischen Welt, wodurch der Autor eine permanente Wirkung von Komik erzielt, die manchmal unfreiwillig wirken soll, aber in Wahrheit natürlich genau kalkuliert ist.
Und worum geht es nun inhaltlich? Nicht umsonst trägt der Band den Untertitel "Ein Bestiarium der Liebe", denn die meisten Erzählungen sind tatsächlich mutierte love stories, in denen Tiere eine Rolle spielen. In "Milchgesicht" ist es das Einhorn, zu welchem sich der Protagonist mittels selbstgebauter Stirnband-Schrauben-Konstruktion macht; deren metaphorischen Sinn erahnen wir zwar (der gehörnte, verlassene Liebhaber), deren praktischer Zweck wird uns auf ironische Weise aber erst ganz am Schluss klar. Die Geschichte "Das Wiesel", mit rund sechzig Seiten die mit Abstand längste im Buch, trägt den Bezug schon im Titel: nach einer wilden Kostümparty heftet sich das kleine Raubtier an die Fersen der Hauptperson Henri, macht sich in der Wohnung breit und vertreibt schlussendlich Henris bodenständige Lebensgefährtin, indem es immer mehr zum Subjekt der Liebe Henris wird. "Der Lehrling" handelt von einem angehenden Dachdecker, der seine katzenverrückte Studentenfreundin an einen schmächtigen Kommilitonen verliert, sich selbst in eine mannsgroße Riesenkatze verwandelt und ein schreckliches Ende herbeiführt. Und stets schwingen zwischen Realität und Wahnsinn die ureigenen Assoziationen des Lesers mit.
Als Hörbuch würden sich diese Texte ganz besonders gut machen: ihr Klang ist vielleicht sogar mitunter wirkungsentscheidend. Mit frischem lyrischem Schwung verwebt Snela unbekümmert Binnenreime und Alliterationen und schafft einen Sound, der nicht unwesentlich von der Tradition der Spoken-Word-Bühnen und Poetry Slams beeinflusst scheint:
"Die Tankstelle war ein schon von weitem zu spürendes Glimmen von kleinen Stängeln, ein Pulsen des Safts in den Schläuchen, ein Sich-Umdreh´n von Bäuchen, ein Kotzen von Schlangen in Tanks rein, ein in Gesichter geschriebenes Bangen, das Geld möge reichen, Verfluchung von Scheichen, Herumsteh´n an Teichen, in denen kein Fisch schwamm."
Jetzt darf kurz Luft geholt werden. Oder an anderer Stelle:
"War was im Whiskey? Na ja und wenn auch. Im Gold- um Goldkelch über ihm ausgeschütteten Licht oder Honig, der hier hereinseimt, ist Henri ganz Aal im Andrang luzider Lustbarkeiten, der sich drin reckt und räkelt. Die Frühluft, die durch das Fenster hechelt, ist heilignüchternmachend, erfrischend kühl."
Das ist zunächst einmal höchst vergnüglich zu lesen, doch es bedarf schon so etwas wie eines intellektuellen Waschzwanges, um solcherlei hölderlinierte neorokokokafkaeske Formulierungen (um einmal in den Wortschöpfungsbildern des Autors zu bleiben) wieder aus den Hirnwindungen gespült zu bekommen.
Die anrührendste und zugleich gruseligste Geschichte ist denn auch ausgerechnet die, in der die snelaschen Manierismen auf ihren reinen Wiedererkennungswert reduziert sind und dem Plot von einem geschlechts-, alters- und namenlos bleibenden Kind, das allein lebt und sich in einer gleichgültig bis feindlich gesonnenen Umwelt selbst versorgt, den notwendigen Raum gibt.
Nicht selten ist ein literarischer Prosa-Erstling, in welchem der Leserschaft ein Autor als Verfasser von kurzen bis mittellangen Erzählungen vorgestellt wird, in dessen Karriereplanung so etwas wie das Sprungbrett zur größeren Form - dem Roman. Allerdings kommt der snelasche Duktus bei fortschreitender Textmenge unweigerlich an seine Grenzen. Die barocke Überfülle, die seine poetisch durchwobenen Kurztexte zu so unwiderstehlichen literarischen Kalorienbomben werden lässt, bewirkt irgendwann eine Art Übersättigung.
"So sehr er Geistesblitze und Akribie zu schätzen wisse, nun sei´s genug",
schreibt Snela von einem seiner Protagonisten (S.58), und man ist geneigt, genau diesen Satz auf sein eigenes Schreiben zu übertragen. Dass Snela diesen Duktus nun verinnerlicht hat, zeigt sich an seinem Beitrag zum diesjährigen Bachmannpreis, der sich zumindest sprachlich relativ nahtlos an die "Milchgesicht"-Sammlung anschließt.
Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass der Autor (und vor allem sein Verlag) der Versuchung widerstehen werden, wieder einige Jahre bis zum nächsten Buch folgen zu lassen. Und: die Leserschaft wartet wohl auf einen Roman von Jan Snela, nicht auf einen weiteren Band an Erzählungen. Es wird interessant sein zu sehen, ob Snela sich auch in der langen Form behaupten wird und das erhöhte Veröffentlichungstempo in entsprechender Qualität zu seinem ersten Buch mitzugehen imstande ist.
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