Der Fortgang der inneren Handlung spiegelt den Zugang zur Welt.
Die erste Anthologie von Kino- und Filmgedichten ist erschienen – und wer weiß davon? Andreas Kramer und Jan Volker Röhnert haben sich die Lyrik jenes Zeitraum angeschaut, in dem das bewegte Bild, das Wunder des Films unser Bewußtsein zu verändern begann, also ca. ab dem Jahrhundertwechsel um 1900. Sie haben 120 Gedichte ausgewählt und präsentieren sie chronologisch. Die Möglichkeit eine zweite, eine völlig menschenproduzierte Welt neben die eigentliche zu stellen und die ihr anhaftenden Nutzungsbreiten (als Lupe gleichwohl wie als Projektion) auszuspielen, veränderte Sichtweisen und Betrachtung der Menschen so nachhaltig, daß es naive, unverbrauchte Wirklichkeiten jenseits der Selbstbebilderung – und verfilmung nicht mehr gibt, sondern immer mehr die Wirklichkeit zum Film wird, zur privaten Inszenierung und Vorstellung und zum eigenen Kopfkino.
Das konnte nicht an den Literaturgattungen vorbeihuschen. Schon gar nicht an der Lyrik, die ihre Reaktionstiefen zeittypisch spiegelt und dabei den bildhaften Molekülen der Ichchemie zu elementarem Stoffgewinn verhilft. Es ist nicht bemerkenswert, sondern natürlich, daß etwas derart Einschneidendes, etwas so Wirklichkeit Bestimmendes, wie Kino und Film in die Literatur finden mußte. Alles andere wäre erstaunlich gewesen. Lebensbegegnungen sind der Stoff, an dem sich die Formulierkraft der Lyrik abarbeitet und in dem Maß, wie sich Kino und Film in unseren Alltag hineingearbeitet haben, schwillt auch die Textdichte, aus der man Kino und Film wieder herauslesen kann.
Man kann also nicht von einer Gattung sprechen, vom Kinogedicht oder vom Filmgedicht. Dann könnte man auch vom Weltraumgedicht und vom Klostergartengedicht sprechen, vom Gedicht am frühen Morgen und vom Gedicht frisch aus der Sauna - weil sich überall Topoi finden, aus denen man poetisch Lebensbegegnungen exportieren kann. Für die Lyrik verbietet sich nichts. Das Kinogedicht wäre dann etwas Spezielles, wenn es sich lyrisch Schreibende zur Verpflichtung gemacht hätten, Gedichte über/von/zu einzelnen Filmen zu schreiben, also die poetische Kraft des einen Genres mit dem des dichtenden zu verschränken und zu ergänzen. Und das Filmgedicht wäre nur dann eine eigene Gattung, wenn das Szenische, das schon seit Rilke wunderbar in Gedichten zu kleinen Filmen geschnitten wird, nicht die ohnehin weitverbreitetste sondern eine extravagante lyrische Schilderungsweise wäre.
Aber man kann von Einfluß sprechen und Spiegelung. Und in ihrer Anthologie „Die endlose Ausdehnung von Zelluloid“ gehen Kramer/Röhnert diesen Weg, zeigen an Beispielgedichten auf, wie nach und nach der Film in unsere Kultur einsickert und schließlich zu einem wesentlichen Merkmal auch des modernen Gedichtes wird, einem „Film in Worten“. Während zu Anfang das Kino eher ein örtlich begehbares Ereignis darstellt, das man aufsucht und das seine eigenen Gesetze hat, wird es im Verlauf der Moderne assimiliert zu einem inneren Geschehen und Teil der inneren Struktur. Und: Film ist nicht Film.
„Ich bin Kinoglas, ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam, ich schaffe Tausende verschiedene Menschen nach verschiedenen, vorher entworfenen Plänen und Schemata. […] Von einem nehme ich die stärksten und geschicktesten Hände, von einem anderen die schlanksten und schnellsten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdruckvollsten Kopf und schaffe durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen.“ sagte der russische Filmemacher Dsiga Wertow, der 1929 dem narrativen, theatralischen Kino seinen avantgardistischen Dokumentarfilm „Der Mann mit der Kamera“ entgegenstellte und dabei das Filmen als Komposition einer spannenden Reportage mit Bildern der Echtwelt begriff. Es gibt so viele unterschiedliche Zugänge im Gebrauch des Mediums Film und die bewegende bewegte Welt berührt uns auf unterschiedlichste Weise. Der äußere Film spiegelt den inneren Film und der innere Film den äußeren. Geschehen ist eine Folge, ein unaufhaltsamer Fluß. Wenn wir Gedichte geschehen lassen, sehen wir einen Film. Das Geschehen in einem Gedicht, der Fortgang der inneren Handlung spiegelt den Zugang zur Welt.
Angefangen bei René Schickele über die Expressionisten bis zu Thomas Kling und Paulus Böhmer spannt sich das Autorenkabinett und birgt vereinzelte Überraschungen: Walter Turszinsky zum Beispiel, oder Joseph Tress. Der zu Unrecht vergessene Wilhelm Klemm und der lange zu wenig beachtete Theodor Kramer.
THEODOR KRAMER
Kino nach Tisch
Wenn die Sonne nach Tisch auf den Gehsteigen liegt und
und der mürbe Asphalt unterm Absatz sich biegt,
ist es gut, in ein schäbiges Kino zu gehn
und dösend im muffigen Dunkel zu sehn,
wie es flirrt auf der Leinwand und flimmert.Der Fußboden knarrt, das Parkett ist fast leer,
und die Luft ist von Stauböl und Leutgeruch schwer;
der finstere Saal schluckt das Straßengebraus,
und es nehmen die schläfrigen Augen kaum aus,
was da flirrt auf der Leinwand und flimmert.Und es löst sich, was lange vergessen schon lag,
und was vor den Augen da auftauchen mag,
die Kringel und Fratzen, die nie wollen ruhn,
haben nichts, aber gar nichts mit dem mehr zu tun,
was da flirrt auf der Leinwand und flimmert.
Mit den anhängenden Kurzkommentaren zu allen 120 Gedichten, dem Essay „Unter dem Projektor dichten“ und einer gelungenen Textauswahl ist den beiden Herausgebern eine beachtenswerte Anthologie gelungen, die erstmals das Zusammenspiel von Film, Kino und Lyrik dokumentiert und zu mancher kritischer Betrachtung einlädt. Erschienen ist das Buch in der Edition Azur, die immer mehr zu einer first adress in Sachen Lyrik wird.
Fixpoetry 2009
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