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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Ein Leben ohne Poesie ist undenkbar

Jan Wagner in Prosa und Vers

Über die Beglückung, Lyrik zu lesen und zu schreiben, findet man in Deutschland bloß eine vergleichsweise überschaubare Zahl neuerer essayistischer Publikationen, fast immer aus der Feder von Lyrikern selbst. Doch wenige nur sind so klar, lesenswert, scharfsinnig, gebildet und poetisch wie die Aufsätze in Jan Wagners Sammlung „Die Sandale des Propheten“. Beiläufig, wie der Untertitel nonchalant behauptet, sind diese Prosastücke allenfalls im Hinblick auf ihren Anlaß und ihre verstreute Erstpublikation, gewiß aber nicht auf ihren intellektuellen Nährwert.

Provokant und mit rhetorischem Patinando verficht Wagner den Wert der Poesie: „Die Frage sollte sein, ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben. Und nein: Das ist undenkbar.“ Für die meisten Bewohner dieses Planeten ist es indes problemlos denkbar, ohne Poesie zu leben — falls sie überhaupt daran dächten, sich diese Frage zu stellen und die Alternative, nämlich den Verzicht auf Poesie, sich auszumalen. Natürlich ist Wagner dieser Umstand bewußt, mehr als einmal verweist er darum auf das Nischendasein, das die Lyrik heute führen muß, im Gegensatz zu anderen exotischen Beschäftigungen („Glasbläser, Lamazüchter und Triangelvirtuosen“) nicht nur marginalisiert, sondern zudem des Anachronismus und des tränendrüsenschwellenden Bekenntnisses mit psychotherapeutischem Ziel gescholten.

Den Einfluß der Gedichte auf den Lauf der Dinge bezeichnet Wagner als „eher gering“, selbst einem politischen Flugblatt in Versform würde kein durchschlagender Erfolg beschieden sein, denn „schon die Tatsache, daß etwas zu gebundener Sprache verdichtet ist, dürfte Freund und Feind gleichermaßen abschrecken“. Das ist illusionslos formuliert, jedoch nicht unbedingt schwarzseherisch. Auch wenn das Gedicht, als Produkt, keinen Markt- und Massenwert hat, ist es prallvoll mit politischer Subversion, indem es sich dem raschen Konsum entzieht. Der Leser trete, so Wagner, nach der Lektüre in keine veränderte Welt hinaus, betrete aber während des Lesens „auf wenigen Quadratzentimetern bedruckten Papiers“ „einen unermeßlichen Raum“. Der Zugewinn liegt demnach in jedem Leser selbst, nicht als klingende Münzen, vielmehr als Freiheit, in der das Übersehene Aufmerksamkeit erfährt und das scheinbar Banale zu leuchten beginnt.

Jan Wagner macht in seinen Aufsätzen immer wieder unmißverständlich klar, daß das Gedicht eine „Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen und vergangenen Reichtum“ ist, egal aus welcher Sprache dieser transportiert bzw. transponiert ist. Mit besseren Argumenten kann man dem omnipräsenten Desinteresse an der Lyrik wohl nicht begegnen. Speziellere und vielleicht nur die hardliner unter den Lesern betreffende Themen, wie die Segnungen des Rotstifts, die Verteidigung des Wie-Vergleichs oder die notwendige Einbeziehung wissenschaftlicher Fakten in die Poesie, greift Jan Wagner mit vergleichbarer Einfühlung, Abwägung und Klugheit an, so daß auch sie nie in den Verdacht des Beiläufigen geraten.

Auch wenn es um das heikle und unter Lyrikern vieldiskutierte Verhältnis zwischen Form und Aufbrechen der Form geht, kommt Wagner zu durchdachten und beinahe konzilianten Schlüssen. Selbst den Rückgriff auf alte, d.h tradierte Formen lehnt er nicht grundsätzlich ab, weil sich aus ihnen ein Spiel mit dem Neuen gewinnen läßt: „Fortschritt ist das, was man aus dem Rückgriff macht.“ Allerdings ließe sich einwenden, daß „Originalität, Überraschung, Widerspruch und Regelbruch“ zwar fraglos zu den poetischen Tugenden zählen, gute Lyrik jedoch auch in der strikten Befolgung einer Tradition entstehen kann, ohne Anspruch auf formale Originalität, weil vielleicht allein die innere Haltung bereits ein Regelbruch ist, als Ablehnung des Wahnsinns einer ganzen Epoche. Das Ideal wäre tatsächlich: „Die besten Bilder aber, und das ist das Wunderbare an ihnen, scheinen mir jene Bilder zu sein, die ihre Originalität mit einer großen Selbstverständlichkeit verbinden“.

Mit ähnlicher Verve, schierer Belesenheit und essayistischem Gespür stellt Jan Wagner bekannte und weniger bekannte Dichter vor, Walt Whitman und Wallace Stevens, Matthew Sweeney, Simon Armitage und John Burnside, Georg Heym und Wilhelm Lehmann, und sinniert über die Verbindungen und Unterschiede der Dichter-Ärzte Gottfried Benn und William Carlos Williams. Dabei gelingt es ihm, mit mal zarten, mal groben Pinselstrichen zum Kern der Dinge vorzudringen und eindrückliche Portraits und Schilderungen zu entwerfen, die etwas von seinen eigenen poetischen Positionen und Grundlagen verraten.

Wagners essayistische Überlegungen stehen nicht im Widerspruch zu seinen eigenen Gedichten. Er stülpt ihnen weder a posteriori eine theoretische Zwangsjacke über, noch vernachlässigt er seine eigenen Ansprüche. Im letzten Gedicht seines jüngsten Bands, „Australien“, graben einige Personen („wir“ — vielleicht sind es Kinder?) ein Loch auf einem Brachland, in einem Abseits, das nur von abgelegten Teilen der Zivilisation bedeckt ist, bis sie auf der anderen Seite, in Australien, wieder herauskommen. Eine wunderbare Metapher für kindliche Phantasie und Entdeckerlust auf ein Neuland in der Industrieödnis.

Australien ist nur eine Richtung auf der Kompaßrose, die Jan Wagners Gedichte einschlagen, sie erkunden nämlich alle vier Himmelsrichtungen und darüber hinaus die vierte Dimension, fröhlich vor und zurück durch die Zeiten wirbelnd. Wie ein Maler, der mit allen Wassern gewaschen ist, porträtiert Wagner Chamäleon, Gecko, Tukan und Rohrdommel, zeichnet Flechte und Zwetschge, skizziert Epitaphe für den jung verstorbenen Entdecker Michel Vieuchange und den finnischen Dichter Johan Ludvig Runeberg, wandert durch die Landschaften von Hiddensee und Ohio, entwirft Genreszenen von Trappern, Missionaren und Wünschelrutengängern. Es entstehen poetische Miniaturen, in denen sich Fakten und Verschwiegenes die Waage halten, voller Metaphern, die über den Rahmen spähen und direkt vorm Auge des Betrachters herrliche Verbindungen ins Unbemerkte knüpfen.

Zweifellos, Jan Wagners Gedichte sind untadelig: handwerklich brillant, inhaltlich originell. Dennoch wirkt manches in dem jüngsten Band nicht ganz so forsch, wie man es gewohnt ist. Woran liegt das? Wagner nimmt die augenzwinkernde Distanz minimal zurück, als wolle er trotz Modernität und handwerklicher Routiniertheit so etwas wie eine klassische Eleganz suchen. Das ist allemal gut gemacht — aber es weht jetzt ein kühler Hauch aus diesen Blättern: Er tut der heißen Stirn wohl, zum Anwärmen wunder Füße eignet er sich nicht.

Jan Wagner
Australien
Berlin
2010 · 96 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-827009517

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