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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Mehr Haselnüsse für Aschenbrödel

Neue Geschichten vom berühmten tschechischen Eisenbahner
Hamburg

An den Rändern Europas im tschechischen Altvatergebirge. Den Dorfleuten ist vieles nicht geheuer. Die Globalisierung, die Emanzipation („Die Frau ist keine Sexsklavin mehr? Ich kack mir aufs Knie.“), Koks, Chinesen und überhaupt diese Städter, die ständig „was Neues“ anschleppen und alles durcheinander bringen. Sogar die geliebten Züge bemalen sie mit merkwürdigen Strichen und Männchen („Die Prager wissen vor lauter Übermut nicht, was sie noch für Blödsinn machen sollen“). Den Gebirglern helfen da nur „ein Grüner“, das beliebte Altvaterbier oder ein paar Stunden allein auf dem Klo. Vielleicht auch ein Gespräch mit dem Pfarrer. Jeder hat so seine Taktik. Völlig weltabgewandt ist man natürlich dennoch nicht. Längst sind der „Miss Altvater Wet-Tshirt-Contest“ oder der „Altvater-Blackmetal-Karneval“ sehr beliebt. Solange es hin und wieder ein zünftiges Eisenbahnertreffen gibt, bei dem alle zusammenkommen: „Die Ungarn fanden doof, dass wir nach ihem Gulasch gerülpst haben. Die Polen aus Galizien waren sauer, dass wir sie komplett vergessen hatten. Und die feinen Österreicher vermissten auf dem Klo das warme Wasser. Wir stritten uns. Und umarmten uns am nächsten Morgen wieder. Was Gleise einmal verbinden, das kann niemand mehr trennen.

Auch im neuen Comic „Alois Nebel – Leben nach Fahrplan“ der beiden Tschechen Jaroslav Rudiš (Autor) und Jaromír 99 (Illustration) ist das Dörfchen Bílý Potok im früheren Sudetenland der Nabel der Welt. Von dort aus zieht man dann über den Rest davon her. Aber natürlich bloß, weil man sich im Grunde genommen lieb hat. In kleinen, abgeschlossenen Szenen werden aus der Sicht des Eisenbahners Alois Anekdoten aus Küche und Kirche, von der Vernissage, dem Bierfest, dem Pärchenurlaub auf Rügen oder der Reise nach Prag erzählt. Anschließend herrscht in Bílý Potok eine Läuseplage: „Zeitzeugen sagten, schlimmer sei nur die Pest gewesen oder als uns die Schweden und die Deutschen und die Russen überfallen haben. Die scheiß Prager! Waschen die sich etwa nicht?“ Überhaupt bekommen die armen Prager eine Menge Gift ab. Doch selbst Alois’ Kumpel Wachek erhält nur „eine Stange Salami für Ausdauer und Mut.“ Ziemlich bissig geht es zur Sache, jeder kriegt sein Fett weg. Die Polen sind kirchentreue, Billigbier trinkende Schnäppchenjäger, immer bereit für ein bisschen Schwarzhandel. Nicht zu vergessen die täglich durchgehend Würstchen essendenden, innovationsgeilen Deutschen mit ihrer kalten Ostsee.

Trotz der Freude, den dieser Comic mit seinem eigensinnigen Humor bereitet, kommt man natürlich nicht umhin, ihn mit seinem Vorgänger „Alois Nebel“ zu vergleichen. Die Comic-Trilogie, in Tschechien schon länger ein Klassiker, erschien im letzten Jahr zum ersten Mal auf Deutsch beim Dresdner Verlag Voland&Quist. Der eigenbrötlerische Bahner Alois wird Ende der 80er Jahre von Albträumen heimgesucht. Der Zweite Weltkrieg, die Vertreibung der Deutschen, die sowjetische Besatzung: Alois sieht Züge mit Geistern und Schatten aus der dunklen Vergangenheit Mitteleuropas vorbeirauschen. Diese Alpträume wird er nicht mehr los und endet in einem Sanatorium. Im Jahr 2012 wurde das Buch von Tomáš Luňák verfilmt und als bester Animationsfilm mit dem Euorpäischen Filmpreis ausgezeichnet. Von den Feuilletons als düsteres, zugleich schrilles und vielschichtiges Buch gelobt, das sich mit der verdrängten tschechisch-deutschen Vergangenheit auseinandersetzt, ist der Nachfolger „Leben nach Fahrplan“ allerdings weniger komplex angelegt. Zwar wird der schwarzweiße, scherenschnittartige Bildstil auch diesmal beibehalten, aber düstere Melancholie wie noch beim Vorgänger kommt nicht auf. An die Trilogie kommen diese neuen Geschichten deshalb nicht heran. Aber vielleicht wollen und sollen sie das auch nicht.

Jaromír Švejdík · Jaroslav Rudiš
Alois Nebel
Leben nach Fahrplan
Übersetzung:
Mirko Kraetsch
Voland & Quist
2013 · 104 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-863910-29-7

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