Kritik

Die Welt als Text

Zwei Bücher von Jayne-Ann Igel in einem
Hamburg

worte sind es, was ich im erwachen als erstes wahrnehme, noch/ vor dem licht – Die sprache ist ein geschirre, denn kaum er-/ wacht, bin ich versucht, etwas auf den begriff zu bringen, und/ sei es nur eine definition des augenblicklichen zustands.

Im Frankfurter Gutleut Verlag erschien diesen Herbst mit vor dem licht/ umtriebe ein Doppelband der 1954 in Leipzig geborenen Dichterin Jayne-Ann Igel. Der Band umtriebe, der Miniaturen enthält, war bereits 2013 beim Gutleut Verlag in der Reihe black paperhouse erschienen. Spiegelverkehrt gesetzt trifft er in der Mitte des Bandes auf die Prosagedichte aus vor dem licht. Und in der Tat ist es eine sinnvolle verlegerische Entscheidung gewesen beide Arbeiten zusammenzuführen, erhellt die eine sich gewinnbringend im Lichte der anderen.

Beiden gemeinsam ist die Intimität, die das lyrische Ich mit dem Leser eingeht. Der vertrauliche Einblick in das Leben und den Alltag eines Individuums, den diese Texte gewähren. Im ersten Band vor dem licht sind es vornehmlich Spaziergänge durch die Landschaft, auf die wir dieses Ich begleiten dürfen. Das Abschreiten dieser Wege konstituiert immer zugleich auch das Gedicht.

als ich heute morgen die stelle passierte, das geraschel von
vögeln im eichenlaub, das in den kronen verblieben, und
dieses knistern im regelmaß der schritte ein takt, der eine
sprachmelodie entstehen ließ, einen satz, dem ich minuten-
lang nachlauschte – In höhe forsthaus indes hatte ich ihn wieder
verloren, und nur die erinnerung daran, daß da etwas gewesen,
das mehr als ein klang…

Dabei betätigt sich das lyrische Ich als Spurenleserin, …kundig all der lauf-, der/ fluchtschriften, nur daß sie sich mir nicht dauerhaft einprägen/ sollten, abgesehen von den runen der vögel.

Es ist das Naturbild der Frühromantik, dass uns in Jayne-Ann Igels Prosagedichten begegnet. Man fühlt sich etwa an den Beginn von Novalis Lehrlingen zu Sais erinnert:

Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt.

So sind auch bei Igel Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis gleichgesetzt, Bäume und Tier beredt:

durchdrungen vom/ wurzelwerk der kiefern, die in soldatischer strenge, schmal, die/ arme dicht am körper, im gang der zeit, bis sie jemand fällt,/ schneisen schlägt, ein orkan der einen oder anderen den kopf/ verdreht…

Und nicht fehlen darf natürlich der Mond als Fixpunkt am nächtlichen Firmament, der mit bleichen fingern/ noch im letzten Winkel stöbert oder auch einfach als wort mit einem schweif /von anklängen, einer schleppe von bedeutungen…

Ebenso entspricht der skizzenhafte, oft fragmentarische Charakter der Texte dem frühromantischen (wie natürlich auch postmodernen) Formideal. Der Stil wiederum wirkt durch das Weglassen der Verben am Satzende und Wendungen wie indes manieriert.

In den Prosaminiaturen im Band umtriebe wiederum geht es um vergangene Zustände, den Versuch, Erinnertes gegenwärtig zu machen. Der darin immer wieder beschworene Zeitgenosse von anno dazumal (den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern) plaudert aus dem Nähkästchen. So nah und indiskret als läse man unerlaubt in den Tagebuchaufzeichnungen eines anderen. Wenngleich diese Aufzeichnungen selbstredend durchliterarisiert, verdichtet sind. Dass ihr hierfür tatsächlich das Tagebuch als Steinbruch gedient hat, bzw. als Sandgrube, wo sich immer mal wieder etwas findet, anfindet, angelegentlich macht, macht die Autorin im letzten Text des Bandes, im Nachspruch transparent. Es seien größtenteils reminiszenzen, ausgelöst durch träume oder einen gedankengang, heißt es dort.

Scheinbar harmlose Alltagsbeobachtungen sind es, aber wie so oft bedarf es nur einer winzig kleinen und doch in der richtigen Nuance oft so schwer zu treffenden Verschiebung des Sehepunktes, und die Wartenden in einem Postschalterraum verwandeln sich in Kosmische passagiere, von denen der zeitgenosse kaum einen kannte, es sei denn vom sehen…

Inhaltlich sind diese Prosaminiaturen zwischen der Landschaft der Kindheit und dem Arbeiterleben in der ehemaligen DDR angesiedelt. Schon zu Eingang berichtet das Kind von einem Loch im Kopf, das ihm ein Spielkamerad mit einem Kopierstift geschlagen hat, worauf alles anders geworden war, was ich damals aber nicht ahnen konnte…

Zu Beginn also steht Erschütterungserlebnis mit dem Stift, der sich in den Kopf eingräbt, so dass das Wasser vom Haarewaschen(…)  blau verfärbt ist.  Alles ist anders geworden, die unberechenbare brachiale Welt wird in Text gebannt, das Chaos und das Nichts in Worte überführt und gebändigt. Die unverständliche Welt, durch das Schreiben auf den Begriffe gebracht und begreifbar gemacht.

Das Initiationserlebnis setzt einen Prozess in Gang, der das lyrische Ich schreibsüchtig macht. Selbst im Schlaf und im halbwachen Zustand werden Verse geformt und gewendet. Alles wird ihm zu Zeichen und Zeile. Allemal die Spur der Tiere auf dem Boden, die es auf den verführerischen Gedanken bringen, dass sich die vorfahren, als sie die ersten schriftzeichen/ erfanden, von den abdrücken im sand oder schnee haben inspi-/ rieren lassen…

Die Worte als arbeitgeber stiften Sinn. Sätze bieten Halt, haltlos wie es selbst und die wirklichkeit.

Anm. der Redaktion: Die Webseite des Gutleut Verlages wurde gehackt. Bei Interesse nutzen Sie bitte die nachstehenden Kontaktadressen.
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Jayne-Ann Igel
vor dem licht | umtriebe
mit fotografien von jayne-ann igel und michael wagener sowie einem begleittext von kristin schulz und einem interview
2014 · 120 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-936826-73-9

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