Mit toten Frauen sprechen
Für einen Literaturenthusiasten, der regelmäßig mit der Idee spielt seinen Bürojob aufzugeben um sich endlich seiner wahren Passion zu widmen, ist es wohl ein Leichtes Jessa Crispin zu beneiden. Doch finden nur sehr wenige selbst den Mut und die Ausdauer, die es braucht ein Literaturmagazin zu gründen und über mehr als ein Jahrzehnt am Leben zu halten. Jessa Crispin, alias "Bookslut", hat eben das getan. 2002 gründete sie das gleichnamige, heute über den englischsprachigen Raum hinaus bekannte Magazin Bookslut.com und hat es als Chefredakteurin nicht nur bis heute am Leben gehalten, sondern auch schnell an Einfluss gewinnen sehen.
Mit ihrem steigenden Bekanntheitsgrad folgten Interviews und das Schreiben von Buchbesprechungen in großen Zeitungen wie der Washington Post. Sie hatte sich in Amerikas Literaturszene einen Namen gemacht und wenn man nicht sagen darf, dass sie es geschafft hatte, so war sie doch zumindest auf einem sehr guten Weg dahin. Jedoch anstatt einfach weiter zu schreiben, zu interviewen und schlussendlich einen Job im amerikanischen Literaturbetrieb zu finden von dem viele andere wahrscheinlich nur träumen können, bewies sie erneut Mut und tat das wovon nun ihr erstes eigenes Buch zeugt.
"The Dead Ladies Project" ist Reisebericht, Tagebuch und Essaysammlung in einem. In einem kurzen Vorwort erfahren wir, wie die Autorin mit ihrem Leben in Chicago bricht um sich vor ihren suizidalen Tendenzen zu retten. Jedoch mag der Ausweg den sie findet ungewöhnlich erscheinen. "It was the dead I wanted to talk to. The writers and artists and composers who kept me company in the late hours of the night…" Crispin zieht nach Berlin, "with a pair of suitcases and no plan beyond leaving."
"The Dead Ladies Project" ist aber nicht nur die Geschichte von Crispins Flucht nach Europa, es ist vor allem die Wiedergabe ihrer Treffen mit Menschen, die lange vor ihr an dieselben Orte geflohen waren um ebendort, wie Crispin, zu suchen. Es ist eine Sammlung von zehn Essays, welche jeweils den Namen einer Europäischen Stadt und den Namen eines dort lebenden Emigrées als Titel tragen. Die Auswahl der Emigrées selbst basiert anscheinend ausschließlich auf Crispins persönlicher Beziehung zu deren Leben und Werken, anstatt auf einer wie auch immer gearteten objektiven Wertung ihrer literarischen oder künstlerischen Relevanz. So finden wir beispielsweise ein Kapitel über Claude Cahun in Jersey Island jedoch keines über die Gertrude Steins, Scott F Fitzgeralds, oder Ernest Hemingways des Paris der 20er Jahre. Es ist aber nicht nur die Auswahl, welche für den Leser Neues bietet, sondern auch der Blickwinkel auf die Leben der vielen Helden dieses relativ kurzen Buches. Große Schriftsteller wie James Joyce in Triest oder W. Somerset Maugham in St. Petersburg werden oft nicht direkt, sondern vielmehr durch das Leben ihrer Frauen betrachtet. Diese Perspektive erklärt schlussendlich nicht nur den Titel des Buches, sondern ist auch in einen tiefer reichenden Feminismus Crispins gebettet, welcher immer wieder deutlich zum Vorschein kommt und, je nach Gesinnung des Lesers, mit der Zeit etwas ermüdend wirken kann. So scheint, beinahe unausweichlich, eine Moral jeden Kapitels die Absurdität der Unterdrückung der Frau im zwanzigsten Jahrhundert zu sein; ein Leitmotiv, von dem man der Autorin nach der Hälfte des Buches freundlich sagen möchte: Danke, ich habe es verstanden.
Crispins Suche nach den toten Ladies (und vielfach auch deren Gatten) wäre nicht konsequent, hätte sie sich einfach in ein Apartment in Paris, Barcelona oder Berlin eingeschlossen um dort aus Büchern heraus weiter ihre Helden kennenzulernen, wie sie es genauso gut von Chicago aus hätte tun können. Crispins Kennenlernen bedeutet für sie konstantes Reisen und das Erleben jeder einzelnen Stadt von der sie erzählt. Dort sucht sie nach Menschen und Orten die das Leben ihrer Heldinnen und Helden geprägt haben. Doch so unterschiedlich diese Orte und Menschen auch sind, so sind Crispins zehn Essays keinesfalls unabhängig nebeneinander stehende Wiedergaben der Leben anderer. Was sie verbindet ist das Leben, das Reisen, Fliehen und Suchen ihrer Erzählerin. "The Dead Ladies Project" ist eben nicht einfach eine Sammlung von Essays, sondern auch literarischer Reisebericht nicht nur Crispins äußerer Erlebnisse, sondern vor allem auch ihrer Inneren. Ein mysteriöser "Lover", von dem sie bald erfährt, dass er verheiratet ist, begleitet sie in kurzen Teilen ihrer Reise wirklich, meist jedoch nur als Abstraktion in Emails und Gedanken. Mit derselben gnadenlosen Offenheit ("I am a very good mistress. I dress up, I perfume, I undress the moment he arrives.") mit der uns Crispin ihre eigenen Selbstzweifel und Reflektionen offenlegt, erzählt sie uns auch von den Leben ihrer Emigrées. Diese Ehrlichkeit und Authentizität zeigt sich nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch in ihrer Sprache, welche immer wieder schnell zwischen wohlartikuliertem Literarischem Ausdruck und einer brüsken, teilweise ins Profane reichende Umgangssprache wechselt. Wenn Crispin konstatiert: "The best thing any of us can do is to just keep fucking up in a forward motion, and see what comes out of it", so müssen wir einräumen, dass diese "fuck ups", die sie uns in ihrem kleinen Buch präsentiert, durchaus gelungen sind.
Crispin ist mal reflektiert ernst, mal komisch selbstironisch, doch eines ist sie nie: gezwungen oder gar künstlich. Konsequent bleibt sie jenem so leicht zu folgenden Ton treu, durch den wir neue und uns bereits bekannt geglaubte Figuren der Literaturgeschichte entdecken und in jedem Kapitel ein Stück weiter eine neue Figur der literarischen Gegenwart erkennen: die Autorin selbst.
"The Dead Ladies Project" ist eine fesselnde Reise an Orte, an denen Menschen ihr Leben neu entwarfen. Crispin folgt dieser selbst gesteckten Trajektorie und findet an jenen Orten nicht nur die Menschen, die sie aufbrach zu suchen, sondern am Ende auch immer ein Stück ihrer selbst.
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