New York ist die Spitze, der Gipfel der Welt.
In der an Gründungsmythen nicht armen Geschichte der ästhetischen Moderne gilt John Dos Passos' Roman "Manhattan Transfer" von 1925 unbestritten als Meilenstein des experimentellen Erzählens und vielleicht als erster Großstadtroman überhaupt. Bereits 1927 erschien eine erste Übersetzung des Romans im S. Fischer Verlag auf Deutsch. Wiederum zwei Jahre später folgte, ebenfalls bei S. Fischer, Alfred Döblins deutsches "Pendant" dazu, "Berlin Alexanderplatz", das ebenso wie "Manhattan Transfer" bis heute zu den Klassikern moderner Erzählliteratur gehört.
Zahlreiche Autoren haben sich seither auf Dos Passos, Döblin oder gleich auf beide berufen, wenn es darum ging, komplexe, von geschlossener Stringenz abweichende Erzählmethoden in ihren Romanen anzuwenden. Zuletzt etwa der Leipziger Clemens Meyer, der keinen Hehl daraus macht, dass vor allem Manhattan Transfer großen Einfluss auf die Entstehung seines eigenen Großstadtepos "Im Stein" (2013, wiederum S. Fischer) hatte. Es ist daher keine große Überraschung, dass Meyer das Nachwort zu der nun erschienenen Neuübersetzung von Dos Passos' mit Abstand bekanntestem Werk beigesteuert hat.
Ebenfalls wenig überraschend ist es, dass Meyer sich dafür in seinen erst kürzlich erschienenen Poetikvorlesungen "Der Untergang der Äkschn GmbH" bedient, in denen er seine Bewunderung für Dos Passos und zahlreiche andere US-Erzähler zum Ausdruck bringt. So ist sein Nachwort letztlich eine selbst in ihrer Kürze ausufernde (Selbst-)Montage. Das scheint nur folgerichtig zu sein, denn Meyer betont:
Ohne den Transfer auch kein William S. Burroughs, im Prinzip ist Dos Passos der erste Cut-up-Poet beziehungsweise bereitete er diese Technik, diese Ästhetik vor.
Ob nun der eine oder der andere den Cut-up im eigentlichen Sinne erfunden hat, sei dahingestellt. Dos Passos' sprachliche Montage aus unzähligen Figurenstimmen, Großstadtsounds und Erzählperspektiven scheint jedoch einer der Aspekte zu sein, die Manhattan Transfer bis heute interessant machen. Nicht umsonst erschien parallel zur Neuübersetzung des Buches auch eine aufwendig produzierte Hörspielfassung, an der vierzig Sprecher beteiligt waren, um die Polyphonie des Molochs New York angemessen wiederzugeben.
New York, so sagte Dos Passos selbst, ist der eigentliche Protagonist in diesem Roman. Es wird daher gar nicht erst versucht, anhand eines überschaubaren Figurenensembles eine in sich geschlossene Story zu erzählen. Der Text ist vielmehr der waghalsige Versuch, diese gigantische Stadt über einen Zeitraum von ca. 1900 bis 1925 in ihrer gehetzten Alltäglichkeit, ihrer vielschichtigen Durchtriebenheit, ihrer nicht abzuschätzenden Dynamik wiederzugeben.
Zu Beginn des Buches geht der Leser gemeinsam mit einem jungen Mann von Bord der Fähre, die ihn nach Manhattan bringt.
Zum Broadway … Ich will direkt dahin, wo was los ist.
Und schon verliert man ihn aus den Augen, um ein paar Seiten später mit ansehen zu müssen, wie er von der Frage überfordert ist, ob er sein Spiegelei gewendet haben möchte. Es ist diese Überforderung, diese Reizüberflutung, die Dos Passos durch seine Figuren, durch Werbetexte, Radiosendungen, Zeitungsmeldungen weitergibt. Das macht "Manhattan Transfer" nicht immer leicht zu lesen. Man ist fasziniert und manchmal auch erschöpft zugleich.
Doch je nach Tageszeit, je nach Handlungsort ändert sich auch das Erzähltempo des Romans. Die Schlagzahl ist nicht immer gleichbleibend hoch. Hart, dicht, klar, mit scharfen Schnitten – das hält auch Dos Passos nicht über 520 Seiten durch. Hier kommt auch die ausgezeichnete Arbeit des renommierten Übersetzers Dirk van Gunsteren zum Tragen. Er schafft es, zwischen all der Hektik auch die ruhigen Momente adäquat einzufangen, in denen Dos Passos‘ Sätze auffallend lang und länger, teilweise überladen werden. Wie etwa in dieser Etablissementszene:
Gelbes Licht schimmerte auf Spiegeln, Messingstangen und den vergoldeten Rahmen der Bilder von rosigen nackten Frauen, es wurde eingefangen und in Whiskeygläser gegossen, um feurig und mit in den Nacken gelegtem Kopf hinuntergestürzt zu werden, es strömte hell durch die Adern, schoss perlend aus den Ohren und Augen, tropfte spritzend von den Fingerspitzen.
Diese ruhigen Momente im Text sind nicht so rar gesät, wie man vielleicht denken könnte. Und auch das Diktum vom Verschwinden des Individuums in der Masse, das Clemens Meyer in seinem Nachwort wiederholt, gilt nur bedingt. Natürlich ist die Stadt der unbestrittene Protagonist in diesem Roman. Doch gerade das viel zitierte Camera-eye-Verfahren, dessen Erfindung in der Literatur ebenfalls Dos Passos zugeschrieben wird, lässt den selektiven Fokus, den Zoom und die Zeitlupe zu. All dieser Verfahren bedient sich der Autor ausgiebig, sodass man zum Beispiel dem Milchmann Gus McNiel, der in einen Verkehrsunfall verwickelt wird, oder dem Anwalt George Baldwin, der sich des Falls annimmt und darüber mit Gus' anbändelt, problemlos folgen kann und will.
... Auch, wenn so manches Wiedersehen ein paar Kapitel auf sich warten lassen kann.
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