Das Mondlicht eine gigantische Wetterfahne
Mit John Hawkes’ Die Leimrute liegt nach über fünfzig Jahren ein Klassiker der amerikanischen Postmoderne wieder auf Deutsch vor. Von seiner bizarren Brillanz hat er nichts eingebüßt.
Man kann die Handlung dieses Romans relativ schnell nacherzählen: Das Ehepaar Banks und ihr Untermieter Hencher werden in einen Pferdediebstahl verwickelt, der für einen der Beteiligten tödlich ausgeht. Gleichzeitig wäre aber damit über dieses Buch sehr wenig gesagt, denn John Hawkes erzählt, zeitlich in einem ähnlichen Setting wie seine Altersgenossen Kurt Vonnegut und Thomas Pynchon, mit einer manischen Detailversessenheit, schweift ohne Rücksicht auf die Erzähllogik ab, verliert sich in Rückblenden und überreizt die Genregrenzen bis zum Zerbersten.
Da wehen Drillich- und Körpergerüche, weißer Dampf und Brandgeruch durch die Straßen von London, ein Goldzahn schmerzt beim Aufwachen und die Vögelchen vor dem Fenster bekommen mindestens genauso viel Aufmerksamkeit wie Rock Castle, das Pferd, das im Zentrum des Romans steht. Zwischen die Kapitel geschaltet ist eine Figur namens Sidney Slyter, der wie ein Sportreporter kurze Zusammenfassungen und persönliche Einschätzungen der Handlungen abgibt. Noch dazu wechselt die Erzählperspektive sprunghaft zwischen den beteiligten Figuren, was das Lesen selbst zu einer Spurensuche geraten lässt.
Der Verzicht auf eine Neuübersetzung kommt dem Roman dabei zugute: Die etwas angestaubte (wer hat das Wort „Drillich” wohl noch in seinem aktiven Wortschatz?) Sprache von Grete Weil passt sich perfekt in die fiebrige, film-noir-hafte Atmosphäre ein. Und tatsächliche sind die eigentlichen Hauptfiguren in diesem Ausnahmeroman die kühnen, oft expressionistischen Bilder, mit denen Hawkes virtuos hantiert: Ein teerverschmierter Lastwagen mit einem fehlenden Vorderrad, der Funken auf dem Asphalt schlägt, die Silhouette der Stadt, die wie eine Reihe Nadeln mit glühenden roten Spitzen dasteht, und schließlich der Mond, der sich als gigantische Wetterfahne im Nachtwind dreht.
Eine Wiederentdeckung also, die sich besonders dann lohnt, wenn man die literarisch anspruchsvollere Kost schätzt. Ähnlich wie im Fall von Gaito Gasdanow, der, vom Hanser Verlag aus der Versenkung gehoben, im letzten Jahr die Fans der russischen Exil-Literatur begeisterte, hat man nun dank Luxbooks mit John Hawkes die Möglichkeit, noch einmal einen ganz neuen Blick auf die experimentelle Phase der amerikanischen Nachkriegsliteratur zu werfen. Ein abenteuerliches Erlebnis ist garantiert.
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