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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Die Ahnung war, dass ich schlafe.

Gedichte, zu hören stechend scharf wie ein Mondsplitter
Hamburg

Der Narbenbaum ist eine kleinere Gedichtauswahl aus the west. australian poems 1989-2009, des in Australien lebenden John Mateer. Damit ist der Band mit 30 Gedichten ein gut handhabbares, leicht trag- und einsteckbares, LKW-großes Stück aus the west.

(- wir, angespült
hier, wie der Wal
gestrandet und zerhackt
in handhabbare, LKW-große
Stücke […]

Ins Deutsche übersetzt wurden die Gedichte von Andreas Schachermayr. Der Narbenbaum enthält nur die deutsche Übersetzung, sehr selbstbewusst von Übersetzer und Übersetzung, die durchaus für sich alleine stehen kann.

Die Gedichte stammen aus den verschiedenen Kapiteln von the west, da es um einen Querschnitt geht. Darum, ein Kaleidoskop, nicht nur des Gedichtbandes, sondern auch Australiens zu vermitteln. John Mateer fächert viele Aspekte Australiens auf, aber er verweigert sich gerade der Annahme, dass es das eine, klar fassbare Australien geben würde. Oder, dass er dafür die richtige Auskunftsperson wäre. Wer das von ihm und seinen Gedichten erwartet, sollte sich besser gleich dazustellen, zur kleinen, gespannt wartenden Menschengruppe vor dem Möbelladen in der Sydney Road in Brunswick:

[…] Wir blicken nicht auf
vom Gelbschopfkakadu, der wackelig auf der Rückenlehne eines Stuhls hockt.
Wir warten darauf, dass er sich über das Thema AUSTRALIEN auslässt.

Aber Australien wird schon fassbar in den Gedichten, da John Mateer ein aufmerksamer Beobachter ist und daher viel von seiner Umgebung in seine Gedichte einfließen lässt. Weil er so genau hinsieht, vermitteln seine Gedichte auch viele Eindrücke von Australien, das eine Welt für sich ist, auch die Farben sind andere:

[…] Erdtöne, die das Licht
anders brechen.

Es fliegen nicht einfach Vögel durch die Gedichte von John Mateer, sondern sie werden genau bestimmt. Da gibt es einerseits so exotische australische Vögel wie die Allfarbloris, „leuchtend bunt gefiederte Vögel mit orangerotem Schnabel“. Aber es gibt auch Krähen und Spatzen, Vögel die eigentlich fast überall zu finden sind. John Mateer ist australischer Dichter insofern, als er über Australien und ausgehend von Australien schreibt. Aber zugleich schreibt er auch wieder gar nicht über Australien, weil er über die Welt schreibt, eigentlich. Und vor allem schreibt er für die Welt, nicht allein für Australien, daher ist es gut und wichtig, dass seine Gedichte auch in andere Sprachen übersetzt werden.

Verorten lassen sich die Gedichte im Westen Australiens – es werden viele Ortsnamen, oder besondere Pflanzen genannt, die nur in dieser Region zu finden sind, wie Jarrah, „eine im südwestlichen Western Australia verbreitete Eukalyptusart.“ Die Gedichte folgen ausgetretenen Pfaden, über Schluchten hinweg, wo wolkige Eukalyptusbäume rascheln. Dann gibt es aber auch Gedichte, die sich wieder bewusst den Menschen zuwenden, den Blick auf städtische Gebiete und Vororte richten.

Viele der Gedichte sind in Bewegung, räumlich, zeitlich oder beides zugleich. Blickt John Mateer in die Landschaft, sieht er nicht nur, was jetzt zu sehen ist, sondern auch die Vorgeschichte, die dahinter liegt:

[…] Daran anschließend
wachsen heimische Kiefern – wo Kaninchen das Dickicht rodeten
und dann selbst von einem Inselvirus ausgelöscht wurden –
als Echo von Plantagen. […]

John Mateer wurde in Johannesburg geboren, wuchs dort und in Kanada auf und übersiedelte dann nach Australien. Sein Blick auf Australien ist dadurch immer auch ein Blick von außen. Und damit sieht er Dinge anders, findet die Schmerzpunkte der Gesellschaft wie nebenbei, doch punktgenau. Er spricht in seinen Gedichten an, worüber die meisten lieber schweigen – die verdrängte vergessene Geschichte Australiens, die Massaker an den Aborigines, die Zerstörung ihrer Kultur und Lebensweise. Dabei schlägt er aber keinen vorwurfsvoll anklagenden Tonfall an, sondern spricht schlicht an und aus, woran andere vorbeisehen:

[…] Dort blickt die Kaiserin der Rosa Landkarten weg
von der Straßenbahn hin zum Palindrom-Strand.
Und dort, flüchtig erblickt von den Augen aufgeweckter Touristen,
schreien Aborigines, die aus dem Red Centre kommen,
in einer Sprache, die von den verspiegelten Wänden zurückprallt.

Die Aborigines werden nur flüchtig von Touristenaugen erblickt, ansonsten übersehen. So wie die Statuen über sie hinwegblicken, weisen sie auch die verspiegelten Wände ab. Sie schreien an gegen diese Stadt, doch auch das wird überhört. Rosa Landkarten meint die rosa Einfärbung des Britischen Reiches auf Kolonialkarten. Mit Kaiserin ist wohl Queen Victoria gemeint, da es sich um den Victoria Square handelt. Die Aborigines sind Fremde in dieser Stadt, doch eigentlich ist es die Stadt selbst, die fremd ist. Es ist eine rein europäisch angelegte Stadt, das wird schon in der Beschreibung deutlich gemacht, wenn der Grundriss mit einem Schachbrett verglichen wird, und die Breite der Parkanlagen nach der Reichweite russischer Kanonenkugeln bemessen ist. Die verspiegelten Wände, an denen die Sprache der Aborigines abprallt, sind etwas von außen in das Land Getragenes. Denn die Natur Australiens spiegelt nicht zurück, reflektiert nicht, wie man in einem anderen Gedicht finden kann:

[…] das nicht reflektierende Wildwasser,
das wie Blut an den geschlossenen Ohren vorbeirauscht. […]

Gerade durch das Unverspiegelte entsteht Nähe, das Rauschen des Wildwassers ist innerlich spür- und hörbar, selbst bei geschlossenen Ohren. Die verspiegelten Glasfronten am Victoria Square hingegen bleiben abweisend und wahren Distanz.

[…] und ich verstumme im Lichte der Erinnerung […]

Das Verstummen, nicht mehr sprechen können, ist ein wiederkehrendes Motiv in den Gedichten von John Mateer. Er spricht viel an, aber nicht unbedingt alles aus. Es geht aber keineswegs um Verschweigen, sondern Schweigen bedeutet bei ihm immer ein Innehalten, Nachdenken und Verstehen.

[…] und der Spatz flattert auf das Dach gegenüber meinem Fenster,
beobachtet meine blauen Augen dabei, wie sie
den Gedankengängen eines kaiserlichen Dichters folgen,
diesen Worten, die über die Seite marschieren, und meine Zunge
zögert –

Die Zunge zögert, das Gedicht bricht ab und lässt uns nach der Ursache hierfür suchen. Zwei Hinweise, die das Gedicht gibt, sind der Spatz und der kaiserliche Dichter. Da denkt man unwillkürlich an China. Unter Mao, während der Zeit des Großen Sprungs wurde mit der „Kampagne zum Töten der Spatzen“ versucht, Spatzen gezielt auszurotten. An die zwei Milliarden Vögel wurden getötet, indem die gesamte Bevölkerung mit Krachschlagen die Vögel daran hinderte, sich irgendwo niederlassen und ausruhen zu können, so lange, bis die Vögel tot vom Himmel fielen.

Die Zunge zögert, weil es ihm unmöglich ist, vor den Augen des Spatzens den Dichter aus dem Land, das die Spatzen völlig ausrotten wollte, weiter zu lesen. Der Spatz steht hier stellvertretend für den Wahnsinn des Maoismus, der natürlich nicht nur Vögel betraf, sondern unzählige Menschenleben kostete und große Hungersnöte auslöste.

Die Zunge zögert aber nicht allein deswegen, sondern auch, weil der Lesende selbst Dichter in einem Land ist, dessen Geschichte ebenfalls vor Blut trieft, wie ein anderes Gedicht ausspricht. Kängurupfote ist hierbei eine in Australien endemische Pflanzenart:

Kängurupfote,
scharlachroter Messstab für
die Tiefe des Blutes, in dem wir leben, […]

In anderen Gedichten spricht John Mateer offen über die Massaker an Aborigines, über welche ebenso wie über die Opfer des Maoismus in der breiten Gesellschaft des jeweiligen Landes kaum gesprochen wird. Damit stellt dieses so unscheinbar wirkende Gedicht über den Spatzen die grundlegende Frage nach der Verantwortung von Literatur.

Der titelgebende Narbenbaum ist zugleich Metapher für die verdrängte Geschichte Australiens. Wo genau „dieser alte, noch lebendige Baum“ zu finden ist, darüber gibt ein Gedicht Auskunft. Es erzählt die Geschichte eines einzelnen Narbenbaumes, der zufällig vergessen und daher weder gefällt wurde, noch als Heiligtum verehrt wird, oder als Motiv für eine Fotostrecke herhalten musste. Einerseits ist es gut, dass der Baum vergessen wurde und daher noch steht, noch weiter lebt, wodurch auch seine Narben noch sichtbar sind. Andererseits steht der Narbenbaum für unzählige andere Narbenbäume und für die verdrängte Geschichte der Aborigines. Denn genau darum handelt es sich bei den Narben des Baumes:

[…] Er trägt immer noch Narben, wo Rinde herausgeschnitten wurde
für ein Coolamon, einen Schild oder ein Dach überm Kopf. […]

Coolamon ist ein „traditionelles Transportbehältnis der Aborigines“ Es gibt also noch Spuren von dem Leben, das die Aborigines früher lebten. Der Baum ist alt, aber noch lebendig. Die Erinnerung ist „beinahe vergessen“, aber noch nicht ganz. Indem John Mateer ihm ein Gedicht widmet, bewahrt er darin zugleich die Erinnerung an diesen einen einzelnen Narbenbaum und seine Wunden auf. Damit lebt die Erinnerung im Gedicht und auch in der Übersetzung weiter.

[…] Der Satz ist dann ein unbezwingbarer Berg.

Die Gedichte stehen jeweils am Fuße der Seite. Damit erheben sie sich, bilden eine kleine Gebirgskette und lassen viel Freiraum nach oben hin, statt wie üblich von oben herab zu hängen und mehr oder weniger schön in das Weiß der Seite auszufransen. Diese Gedichte lassen dem Auge Zeit, sie zu finden, sich langsam scharfstellen zu können, auf das entgegenkommende Gedicht. Denn dadurch, dass jede Seite zunächst mit einer weißen Fläche beginnt, entsteht jeweils eine kurze Atempause, ein kurzes Innehalten vor jedem Gedicht.

John Mateer
Der Narbenbaum
Übersetzung:
Andreas Schachermayr
hochroth Wien
2015 · 37 Seiten · 8,00 Euro
ISBN:
978-3-902871-70-1

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