Fast nur ein Schatten
„Seit jeher stehen in Argentinien das Identitätsproblem und das Bedürfnis nach festeren Konturen in vielen Debatten an erster Stelle und sind im Bewusstsein der Menschen tief verwurzelt. Die […] Einwandererströme des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielen hier eine große Rolle. Gardel kommt in dieser unübersichtlichen, beunruhigenden gesellschaftlichen Situation wie gerufen. Er bietet sich als Projektionsfläche an, ist jemand, den es eigentlich gar nicht gibt, weil noch lange nicht alles über ihn gesagt ist. In den krisengeschüttelten Zeiten der Zuwanderung und noch fehlenden nationalen Identität bietet sich Gardel Argentinien als Urtypus an.“
Mit diesen Worten versucht Carlos Sampayo den Mythos um Carlos Gardel im Nachwort seiner gemeinsam mit José Muñoz veröffentlichter Graphic Novel zusammenzufassen. Und man muss ihm wohl recht geben, wenn man bedenkt wie frenetisch der Tangosänger bereits zu Lebzeiten gefeiert, wie er nach seinem Tod verehrt wurde und noch immer wird. Dabei beten viele Südamerikaner und Tangoliebhaber weltweit einen Mann an, über dessen Leben es nur sehr wenige sichere Informationen gibt. Schon seine Geburt gab ein Rätsel auf, das bis heute nicht gelöst wurde.
Gardel wurde entweder 1890 in Toulouse (Frankreich) oder 1887 in Tacuarembó (Uruguay) geboren. Er wuchs ohne Vater in Buenos Aires auf und widmete sich bereits seit 1906 ausschließlich dem Singen. In den Folgejahren wurde Gardel in weiten Teilen Südamerikas bekannt und schließlich zu einem der ersten Superstars des Musikgeschäfts. Später spielte er sogar in elf Kinofilmen mit, fünf davon entstanden in Hollywood. Sein plötzlicher Tod im Juni 1935 schockierte nicht nur seine große Anhängerschaft. Auf der Landebahn des Flughafens Medellín (Kolumbien) stießen zwei Flugzeuge zusammen und fingen Feuer. In einem davon saß Carlos Gardel. Und es dauerte nicht lange, bis die ersten Verschwörungstheorien die Runde machten. Der Sänger hegte Sympathien für Politiker der Sozialisten und der Konservativen, hatte Neider und vor allem im Filmgeschäft auch Rivalen. Ob der Zusammenstoß der Maschinen ein Unfall oder ein Anschlag war, darüber streiten seine Fans bis heute. Sicher ist nur, dass sein Tod eine ebenso mysteriöse Aura umgibt wie seine Geburt.
Gardel selbst schwieg Zeit seines Lebens zu seiner Herkunft oder antwortete nur ausweichend „Buenos Aires ist meine Stadt“. Es scheint fast so, als habe der Sänger bereits zu Lebzeiten an seinem Mythos arbeiten wollen; vielleicht war ihm die Frage nach der Herkunft aber auch einfach nicht wichtig genug, um sie in ihren Details klären zu wollen. Seine Landsmänner und -frauen sahen das hingegen ganz anders, und von ihnen gab und gibt es eine Menge. So beanspruchten vor allem Argentinier und Uruguayer Gardel als ihr nationales Symbol.
Dass vom Leben des Sängers heute nur wenige objektive Fakten existieren, nährt natürlich die Legendenbildung um seine Person. Muñoz und Sampayo sind sich des Informationsvakuums bewusst und versuchten daher gar nicht erst einen biografischen Comic abzuliefern. Vielmehr ging es ihnen darum, den Mythos als solchen darzustellen, weswegen ihre Gardel-Figur selbst nur eine Fiktion sein kann. Entlang einer Rahmenhandlung, in der ein Soziologe und ein Gardel-Experte im Buenos Aires des Jahres 2000 über „das Wesen der argentinischen Nation“ debattieren sollen, erzählen Muñoz und Sampayo wie einzelne Episoden in Gardels Leben abgelaufen sein könnten. Dabei läuft immer der Kommentar der diskutierenden Figuren in den einzelnen Bildern mit. Sie fungieren als Korrektiv der Erzähler, die sich scheinbar selbst nicht über den Weg trauen. So wird in Carlos Gardel schon früh eine adäquate Atmosphäre der Unsicherheit etabliert, die sich durch den gesamten Comic zieht. Die nach dem relativ sachlichen Einstieg folgenden Szenen aus Gardels erfundenem Leben nehmen nur langsam Fahrt auf und geben den Eindruck eines behutsam sich aufbauenden Thrillers. Gardel, den wir zu Beginn bereits als Star kennenlernen, gerät zwischen die politischen Lager, zwischen nationale Fronten und wird auch von der Damenwelt heftig umworben. Stets galant, höflich und zurückhaltend schafft er es jedoch, jeder Vereinnahmung zu entgehen, was freilich wieder neue Gerüchte und Sichtweisen auf den Sänger hervorbringt. Nur seine Mutter bildet für ihn einen festen Bezugspunkt im Leben. Die psychoanalytischen Deutungen lassen natürlich nicht lange auf sich warten. Gardel selbst scheint es egal zu sein. Er singt weiter für alle, die ihn hören wollen.
Doch irgendwann scheint ihm der Trubel um seine Person doch zu viel, das Geschäft mit dem Singen zu wenig zu werden. Anfang er 1930er verlässt er Buenos Aires, um eine zweite Karriere in den USA zu starten. Auch von hier aus hat Gardel weltweiten Erfolg, den zu genießen ihm jedoch keine Zeit mehr bleibt. Denn gerade in dem Moment, in dem man als Leser glaubt einen Zugriff auf die Person oder wenigstens die Figur Gardels bekommen zu haben, verbrennt sie in einem Flugzeugwrack. Und dann steht man ebenso wie seine Verehrer mit fast leeren Händen da. Was bleibt ist ein faszinierendes Schema, dass von Muñoz und Sampayo stilsicher in Szene gesetzt wurde. In ihrem Comic erschöpfen sich die Gesichter des Protagonisten und seiner engsten Freunde in Annäherungen. Obwohl uns Gardels Aussehen von Fotografien bekannt ist, setzt Muñoz auf die Kraft der Reduktion, um so einen geheimnisvollen Tiefgang zu schaffen. Ein Mund, eine Nase, zwei Augen und sehr viel Schatten im Gesicht – so sieht der Zeichner seinen Helden und so ist auch der Leser gezwungen den Tangosänger zu sehen. Vielleicht ist es der größte Verdienst des Comics, die Diskretion Gardels in Bilder übersetzt zu haben.
Die Arbeit von Muñoz und Sampayo erschöpft sich jedoch nicht allein in der Figur des Protagonisten selbst. Sie versuchen vor allem auch das Buenos Aires zu Beginn des 20. Jahrhunderts darzustellen, das von zwielichtigen Gestalten nur so wimmelt. So verwundert es nicht, dass bei der Darstellung größerer Menschenmengen vor allem auf Karikaturen gesetzt wird, die bekanntlich als satirischer Kommentar auf eine Gesellschaft verstanden sein wollen. Ein ideales Biotop also, um einen Mann mit ungewisser Herkunft zur Legende, schließlich zum Mythos heranwachsen zu lassen.
Carlos Gardel ist eine gelungene Graphic Novel, die aus genannten Gründen nichts Handfestes über das Leben seines Protagonisten erzählen kann. Dafür entwerfen ihr Texter Carlos Sampayo und ihr Zeichner José Muñoz eine packende Story in einem ebenso atemberaubenden Setting.
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