Kein Freund der jungen Sowjetunion
Ein selbständig publizierter Bericht über Joseph Roths Reisen in die junge Sowjetunion ist leider nie zustande gekommen. Es liegt lediglich eine Reihe von Zeitungsartikeln vor, mit denen sich Roth in die lange Liste derer einreiht, die sich das Experiment im Osten näher anschauen wollten, aus persönlichem Interesse oder im Auftrag eben einer Zeitung oder Zeitschrift. Die große Zahl der Reiseberichte aus den 1920er Jahren zeugt nun von der Faszination, die von jenem Staatswesen ausging, das alles anders machen wollte, als der Rest der Welt. Gerade weil diese Restwelt sich im Umbruch befand und sich als krisenbelastet empfand, wurde die Sowjetunion sehr genau unter die Lupe genommen.
Das ist auch an Roths in der Frankfurter Zeitung publizierten Reiseberichten aus dem Jahr 1926 zu erkennen. Insgesamt 17 dieser Reportagen hat Roth publiziert, leider nur zehn davon werden im von Jan Bürger herausgegebenen Band zu den Reisen in die Ukraine und nach Russland abgedruckt. Hinzu kommen weitere Zeitungsarbeiten, die sich thematisch anschließen, zum Teil aber bereits zuvor, oder deutlich nach der Reise veröffentlicht wurden.
Die Texte sind im Grundsatz aus der Werkausgabe Roths bekannt. Bürger gibt sie aber nicht normalisiert, sondern weitgehend in der Ursprungfassung in den Druck. Außer einigen Vereinheitlichungen bei Umlauten und echten Druckfehlern sind denn auch Schreibeigentümlichkeiten Roths beibehalten worden. Angesichts der erhöhten Entscheidungsfreiheit, die die Neue Rechtschreibung einräumt, ist dies ein klares Bekenntnis zu einem eher offenen Umgang mit den Rechtschreibnormen auch älterer Fassung. Wahlweise verbirgt sich dahinter aber auch der gewachsene Respekt vor den Schreibeigentümlichkeiten der Autoren und historischen Textständen – was sich für einen Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs Marbach, der Bürger ja ist, wohl eher schickt.
Dass Bürger nur zehn Reportagen aus einer Reihe von 17 abdruckt, ist freilich bedauerlich, zerstört er doch eine mögliche Gesamtkomposition der Reportagen, wie sie sich auch bei anderen Berichterstattern finden lässt. Denn auch Zeitungsreportagen lassen sich – trotz ihrer Erscheinungsrhythmen – in eine Komposition fassen. Das berühmteste Beispiel ist zweifelsohne Egon Erwin Kischs Reportage Zaren, Popen, Bolschewiken, die zeitgleich wie Roths Berichte für die Frankfurter Zeitung entstand.
Erst gegen Ende der 1920er Jahre und zu Beginn der 1930er Jahre wuchs die Kritik an der Sowjetunion. Die ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolge und die permanente Mobilisierung, die Folgen auch des Bürgerkriegs wurden spürbar. Mitte der 1920er Jahre jedoch war alles noch offen, war es noch unklar, wohin die Reise gehen würde. Wie Bürger an den Aufzeichnungen Roths zeigt, sind die Eindrücke, die auf den Reisenden einstürmten, derart vielfältig und widersprüchlich, dass es sich anfangs fast verbietet, irgendetwas Endgültiges niederzuschreiben und zum Druck zu geben. Das ging auch anderen so.
Bei Roth wird man allerdings nicht unbedingt vermuten, dass er ein Freund der Sowjetunion war, ist er doch in der heutigen Wahrnehmung als Chronist des untergehenden kuk-Reiches vorbelastet. Dennoch hat er seine publizistische Karriere im linken Medienspektrum begonnen, wie etwa in seinen Film-Feuilletons zu erkennen ist, die gleichfalls kürzlich erschienen sind (Joseph Roth: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos. Hrsg. und kommentiert von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel. Göttingen: Wallstein 2014). Erst später, mit der Arbeit an seinen Romanen, ging er zu seinen frühen sozialistischen Positionen auf Distanz.
Jan Bürger macht diese Wende entschieden an Roths Erfahrungen auf der Russland-Reise fest. Das, was Roth in Russland gesehen habe, habe ihn derart stark enttäuscht, dass er sich mehr und mehr von seinen sozialistischen Überzeugungen gelöst habe. Gerade weil er in der Sowjetunion das wohl wichtigste soziale Experiment der jüngeren Vergangenheit gesehen habe, habe er sich nach dem Besuch entschieden von ihm abgewandt. Wenn also in der Lesart Bürgers mit der Sowjetunion die Moderne selbst auf dem Prüfstand gestanden habe, dann habe das Ergebnis nur darin bestehen können, dass Roth auch zur Moderne auf Distanz gegangen sei.
Dem steht allerdings entgegen, dass Roth in seinen Berichten die Sowjetunion nicht grundsätzlich ablehnte, sondern ein durchaus differenziertes Bild des Landes und der Gesellschaft zu zeichnen hoffte. Dass er zu Beginn seiner Reise an die Redaktion der Frankfurter Zeitung schrieb, dass man sich in Deutschland ein falsches Bild von der Sowjetunion mache, ist mehr auf den Zeitpunkt als fehlenden oder mangelhaften Reportagen anderer Autoren zurückzuführen. Auch die Beiträge selbst sind nicht abweisend, sondern sondierend zu nennen.
Aus diesem Grund finden sich Berichte aus dem Alltag der Sowjetbürger wie Reportagen über die Medien in der Sowjetunion. In seinem Bericht über die Position des Dorfes in der Sowjetgesellschaft findet sich sogar der Satz, dass man auf dem Lande in der Sowjetunion sehen könne, wie aus Knechten Menschen würden (und das steht immerhin im 14. von 17 Berichten). Roth berichtet über den Umgang mit Kirche und Religion oder über die neue Frau (von der er anscheinend wirklich nichts gehalten hat, Kollontai, die aggressiv für eine neue Sexualmoral und die Emanzipation der Frau im Sozialismus gekämpft hatte, ist für ihn nicht revolutionär, sondern banal). Die Öffentlichkeit der Sexualmoral ging ihm gegen den Strich – was freilich mehr über den Berichterstatter aussagt als über das, was er berichtet.
Insgesamt bestätigt sich Bürgers Sicht auf die Reiseberichte Roths eben nicht. Zwar fehlt bei Roth jener Überschwang, der etwa Kischs Reportagen kennzeichnet (der immerhin wusste, was er von allem zu halten hatte), aber Roth ist weit entfernt von dem Entsetzen, das etwa Herbert und Elisabeth Weichmanns Sicht auf die Sowjetunion fünf Jahre später kennzeichnet (Herbert und Elisabeth Weichmann: Alltag im Sowjetstaat. Macht und Mensch Wollen und Wirklichkeit im Sowjet-Staat. Berlin 1931). Bei aller literarischer Qualität, die auch diese Texte Roths kennzeichnet, eine entschiedene Position ist auch ihnen also nicht zu entnehmen. Was es nicht einfacher macht mit Roth, dafür aber nicht weniger lohnenswert.
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