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Kritik

Fließende Landschaften mit Schwebstoffen

Hamburg

Gedichte können durchaus süffig sein, deshalb müßte man das Jahr 2012 mit einem önologischen Vergleich wohl einen „gute Lyrikjahrgang“ nennen. Ohne Anspruch auf Repräsentativität seien an dieser Stelle vollkommen subjektiv Norbert Lange („Das Schiefe, das Harte und das Gemalene“), Marie T. Martin („Wisperzimmer“), Klaus Demus („Kosmos“), Ulrich Koch, Ludwig Steinherr und natürlich Thilo Krause genannt, deren Bände bereits erschienen sind oder demnächst noch erscheinen. Unbedingt gehört auch Jürgen Nendza in diese Reihe, dessen wunderbar komprimierte Sammlung „Apfel und Amsel“ jüngst im Verlag des Poetenladens veröffentlicht worden ist.

Apfel & Amsel, an dieser Alliteration ist nichts aufdringlich, sie gehört in den Alltag, zum eigenen Garten womöglich, und aus genau dieser vermeintlichen, allein vom Titel herausbeschworenen Bekanntheit entwickelt Jürgen Nendza eine neue und intensivere Art des Sehens, in der die Barrieren von Landschaft und Selbst allmählich füreinander durchlässig werden. Dabei zitiert jene Alliteration, nicht zufällig auf den ersten Buchstaben des Alphabets, gleichsam die traditionellen Bilder für Erkenntnis und Freiheit; und ein solches morgendliches Aufbruchserlebnis, das in dauernder Suchbewegung zwischen dem Subjekt und den Objekten oszilliert, versetzt die Gedichte in Schwingung, ins Schweben, ins pendelnde Annähern und Wieder-Abrücken. Ist das Ungenügen der Worte zu groß, bleibt die Versicherung des Sichtbaren, Greifbaren dahinter, „dieses Tasten / nach der Hand, wenn die Sätze sich verlaufen“.

Verschmelzung und Einfühlen in die Dinge: sind sie nur im Gedicht vollzogen, oder ist das Gedicht vielmehr Dokument eines Übereinstimmens, das außerhalb der Schrift geschieht? Wahrscheinlich beides, irgendwo dazwischen, denn „Naturliebe // ist Übersetzung, sagst du. / Im Sonnentau sprechen wir / nach: Schönheit und Tod.“ Wir begegnen solchen Bildern einer unmerklichen, manchmal nur Augenblicke dauernden Transformation immer wieder, man könnte vielleicht sogar die Gedichte selbst insgesamt als „ein offenes / Gelände unter Schwebstoffen, die Unüberbrückbares // miteinander verbinden“, bezeichnen. Das Subjekt wird im Prozeß des Wahrnehmens zu einem anderen— zu etwas anderem: „Das eigene Atmen steht um uns herum / an der Tür zum Garten.“ Oder: „Ein Mann / und eine Frau und eine Amsel sind eins.“ Das erinnert ein wenig an schamanische Techniken, doch geschieht hier die außerkörperliche Erfahrung nicht durch komplette Loslösung vom Selbst; im Gegenteil wird solche Metamorphose in viel stärkerem Maße durch das eigene bewußte Sehen, Beobachten, Erspüren der Umgebung in Gang gebracht.

Ob auf Zypern oder im Hohen Venn — die Landschaften mögen wechseln, die Art und Weise der Wahrnehmung bleibt sich gleich, ein Nachzeichnen, Abtasten, Anlehnen. Die Dinge sind nicht festgelegt, sind fraglich, sie erscheinen als Rauschen und Flimmern, und in ihre ausfransenden Konturen hakt sich der Geist ein. Ebenso ist das Du auch ein Nebenan, ein fremdes und doch vertrautes Land, eingebunden in die Metaphern der Landschaft. Als typisches Beispiel sei an dieser Stelle eines der schönsten Gedichte dieses Bandes vollständig zitiert:

Der Geruch von Fallobst steigt
durch das Fenster. Ein Wespennest tanzt
in diesem Begriff. Ich schicke es zurück
zum Pflaumenbaum auf die Wiese. Sein Schatten
hat etwas Vollkommenes. Eine Seelenruhe
legt sich über die verblassenden Früchte.
Beim Versuch, den Flug der Wespen
zu beschreiben, finde ich keinen Anfang.
Ich werde zu einem Garten, der sich nicht kennt.
Das Fenster schaut mich an. Ich bin überrascht,
dass mein Körper sich ans Atmen erinnert.

In Jürgen Nendzas Gedichten findet sich alles, was ein ästhetisch befriedigendes Gedicht ausmacht — Anschaulichkeit, Reflektion, Emotion, klug gesetzte Brüche — im richtigen Mischverhältnis. „Apfel und Amsel“ ist ein helles Buch — Bekenntnisse eines „Lichtkeimers“,  eine Liebes- und Lebenshymne, ohne jeden Schwulst und metaphysischen Budenzauber. Nüchtern ausgedrückt: „Der Apfel ist ein Wörterbuch, wenn er vom Baum / fällt.“ Und Jürgen Nendza versteht es trefflich, darin zu blättern und zu lesen.

Jürgen Nendza
Apfel und Amsel
poetenladen
2012 · 72 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-940691361

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